Zurück auf Start

Heute berät eine Kommission des Deutschen Leichtathletik-Verbands über die Tilgung von dopingverseuchten Rekorden. Es geht um ein „kreatives Agreement“. Aber wie kann das aussehen?

VON JUTTA HEESS

Heike Drechsler, mit 7,48 Metern seit 1988 deutsche Rekordhalterin im Weitsprung, möchte sich nicht äußern. „Für den Moment hält sich Heike zu diesem Thema bedeckt“, teilt ihr Manager Jörg Neblung auf taz-Anfrage mit. Man gehe davon aus, „dass sie diese Thematik nicht direkt tangiert“. Dabei ist Drechslers Rekord mit Sicherheit einer derjenigen, über den heute die fünfköpfige Kommission des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) diskutieren wird. Das Gremium will nationale Leichtathletik-Rekorde überprüfen. Rekorde, vor allem aus der Anabolika-Hochzeit der 80er-Jahre, die möglicherweise mit Hilfe von Doping erzielt wurden und die möglicherweise annulliert werden sollen. Für den 8. April möchte die Kommission betroffene Sportlerinnen und Sportler einladen und mit ihnen darüber diskutieren, wie man mit diesen Bestleistungen umgehen soll.

Angestoßen hat die DLV-Aktion die einstige Sprinterin Ines Geipel. Sie engagiert sich schon lange für Doping-Geschädigte aus der DDR. Im vergangenen Jahr forderte sie, ihren Mädchennamen Schmidt aus der Staffel des SC Motor Jena zu löschen, eines Quartetts, das seit 1984 den deutschen Vereinsrekord über 4x100 Meter hält, da dieser Rekord ein Ergebnis des systematischen DDR-Dopings sei. Außerdem wünscht sie sich, auch andere Bestleistungen, die durch unerlaubte Mittel zustande gekommen sind, zu streichen: „Natürlich müssen diese Rekorde stillgelegt werden, damit Athleten, die heute starten, wieder einen realen Anreiz haben.“ Es sei aber „ein kreatives Agreement vonnöten“. Und: „Man kann jemanden, der in einem Zwangssystem gesteckt hat, nicht im Nachhinein bestrafen.“

In den Augen von Clemens Prokop, DLV-Präsident und Mitglied der Kommission, ist die Bezeichnung „kreatives Agreement“ recht treffend. „Wir wollen eine ergebnisoffene Diskussion führen und mit den Rekordhaltern ins Gespräch kommen“, sagt er. „Wir wollen uns Zeit nehmen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Kein Sportler soll für das, was geschehen ist, verurteilt werden.“

Mit den rund 40 deutschen Rekorden, die verdächtig lange ungebrochen sind, hat sich DLV-Juristin und Kommissionsmitglied Anne Jakob in den letzten Monaten auseinander gesetzt. Sie will herausfinden, ob man einer Rekordhalterin oder einem Rekordhalter nachträglich beweisen kann, dass die Leistung aufgrund von Doping zustande gekommen ist. Hierzu sichtet sie vor allem Akten, die aus DDR-Dopingprozessen stammen. Im Vorfeld der Kommissionssitzung wollte sie noch kein Statement zu ihren Ergebnissen veröffentlichen. Auch Prokop hält sich bedeckt, gibt aber zu, dass die Überprüfung von Rekorden aus Westdeutschland schwieriger sei. „In der DDR wurden akribisch Dokumente geführt, im Westen war Doping eine individuelle Praxis, da müssen wir auf Zufallsfunde hoffen.“

Dass die Bemühungen um Aufklärung bei ehemaligen Athleten aus Ost und West nicht auf Gegenliebe stößt, beweist auch das Statement von Marlies Göhr, die seit 1983 den deutschen Rekord über 100 Meter hält. „Die DLV-Leute können doch nicht einfach einen Rekord löschen“, empört sie sich. „Die Leistung habe ich erbracht und hart dafür gekämpft. Die Leute können nicht den lieben Gott spielen und in die Vergangenheit eingreifen. Die sollen sich um die Zukunft kümmern.“ Ebenso verärgert reagierten Marita Koch und Jürgen Hingsen. Die ostdeutsche Sprinterin, die heute noch den Weltrekord über 400 Meter hält, und der westdeutsche Zehnkämpfer, äußerten im Fachmagazin Leichtathletik deutlich ihren Unmut. „Ihr seid doch alle bescheuert, ihr Wessis“, ließ Kock über ihren Ehemann und ehemaligen Trainer, Wolfgang Meier, mitteilen. „Schwachsinn“, polterte Hingsen.

Prokop zeigt sich von dem überwiegenden Teil der Sportler-Reaktionen positiv überrascht. „Natürlich haben einige das Gespräch sofort abgelehnt, aber viele haben auch ihre Teilnahme an einem Treffen zugesagt, andere wiederum möchten telefonisch mit uns über die Sache reden.“ Wie eine Lösung des Problems aussehen kann, wie man jungen Sportlern ermöglichen kann, wieder Rekorde zu brechen, beschreibt der DLV-Präsident so: „Man könnte rückwirkend die Wiedervereinigung als Zeitpunkt des neuen Rekordstarts nehmen. Alle Rekorde, die vorher erzielt wurden, sollen aber als Zeugnisse dieser Zeit anerkannt bleiben.“

„Scheinheilig“ nennt Werner Franke die Aktion. Der Heidelberger Doping-Aufklärer verweist auf die zahlreichen öffentlichen Dopingprozesse sowie das Buch seiner Frau, indem bereits 1991 zahlreiche Dokumente zu Ost- und Westdoping vorgelegt wurden. Damals habe der DLV nicht reagiert. „Wie ich den DLV kenne, geht das wieder mal aus wie das Hornberger Schießen“, prophezeit Franke.

Kein kinderleichtes Unterfangen jedenfalls, das sich der DLV zumutet. Zumal unklar ist, wie man mit deutschen Bestleistungen, die auch internationale Rekorde sind, umgehen soll. Wäre etwa der deutsche 400-Meter-Rekord von Marita Koch getilgt, bliebe er dann aber als Weltrekord weiter bestehen? Und kann sich der DLV tatsächlich dazu durchringen, Bestzeiten und -weiten von Athleten zu löschen, die heute im Verband tätig sind? Bärbel Wöckel zum Beispiel, ehemalige Staffelkollegin von Ines Geipel bei SC Motor Jena, ist DLV-Jugendreferentin. Oder Jürgen Schult, deutscher Rekordhalter im Diskuswerfen; er arbeitet als Bundestrainer.