Zu mündige Athleten

LEICHTATHLETIK-WM Für Aufsehen sorgen in Moskau die Protestformen der Athleten. Ein Kuss zweier russischer Läuferinnen wird im Internet als Zeichen gegen Homophobie gefeiert

Jacques Rogge machte klar, dass auch bei den Winterspielen im russischen Sotschi 2014 das Protestverbot für Athleten gelte

VON JOHANNES KOPP

Auf den ersten Blick schienen die letzten beiden Tage der Leichtathletik-WM im Moskau nach dem Geschmack des russischen Staatschefs Wladimir Putin zu verlaufen. Am Wochenende war das Luschniki-Stadion, die riesige Betonschüssel aus dem Jahre 1956, endlich einmal voll, und die Aufmerksamkeit aller war dem Sport vorbehalten. Die russischen Sportler hübschten ihre Bilanz durch die Hochspringerin Swetlana Schkolina und die 4x400-Meter-Staffel der Frauen (beide Gold) noch einmal kräftig auf, sodass bereits am Samstag mit 7 Goldmedaillen die Zielvorgabe des einheimischen Leichtathletikverbands (6 Goldplaketten) übertroffen wurde.

Doch bei der Siegerehrung der Staffel kam es zu einem Kuss, der womöglich mehr war als nur ein Kuss. Das in diesem Moment sichtliche Erstaunen ihrer Teamkolleginnen spricht zumindest dafür, dass Kseniya Ryzhova und Tatyana Firova ein Zeichen setzen wollten gegen das im Juni verabschiedete Gesetz, das es unter Strafe stellt, Minderjährige über Homosexualität zu informieren. Auf Internetportalen von schwul-lesbischen Aktivisten werden die Russinnen bereits für ihre mutige Geste gefeiert.

Die Verbindungen zwischen Sport und Politik wurden bei dieser Leichtathletik-WM mehr denn je zum Thema, was neben den Funktionären auch manchen Aktiven nicht schmeckte. Der deutsche Sprinter Julian Reus klagte: „Wir mussten in den vergangenen Wochen ständig über Themen sprechen, die nicht mit unserer Leistung zu tun haben: über Doping. Jetzt kommt das nächste Thema.“ Andere hingegen sahen sich in der Verantwortung, ihre öffentlichkeitswirksamen Möglichkeiten zu nutzen. Aus Protest widmete der US-amerikanische 800-Meter-Läufer Nick Symmonds seine Silbermedaille seinen schwulen und lesbischen Freunden. Die schwedische Hochspringerin Emma Green Tregaro bemalte ihre Fingernägel in Regenbogenfarben zur symbolischen Unterstützung der Schwulen und Lesben und wurde wiederum dafür von der linientreuen russischen Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa angegriffen.

Zudem wurde die Schwedin vom Internationalen Leichtathletik-Verband verwarnt: Ihre derart gefärbten Fingernägel würden gegen die Verbandsvorgabe verstoßen, sich während des Wettkampfs nicht werblich oder politisch zu äußern. Auch Jacques Rogge, Chef des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), machte im Hinblick auf die Winterspiele im russischen Sotschi 2014 klar, dass das Protestverbot für Athleten dort ebenfalls gelte. Wladimir Putin dürfte das Bekenntnis des obersten Sportfunktionärs beruhigt haben. Die strikte Sphärentrennung zwischen Politik und Sport ist Grundlage seines intensiven Engagements, das Renommee Russlands über die Ausrichtung von sportlichen Großereignissen und über die guten Ergebnisse der Athleten zu mehren.

Der Erfolgsdruck war während der WM für die einheimischen Sportler nicht gerade gering. Dimitri Tarabin, der Bronze-Gewinner im Speerwurf, berichtete, Putin habe ihn dreieinhalb Stunden vor dem Finale angerufen. Ohne Umschweife kam er zu seinem Anliegen: „Er sagte, er glaube an mich und meine Frau und erwarte Medaillen.“

Obergföll gewinnt Gold

Zufrieden mit den Ergebnissen war der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), zumal die 31-jährige Christina Obergföll zum Abschluss mit einer persönlichen Saisonbestleistung von 69,05 Metern erstmals Speerwurf-Weltmeisterin wurde. Wobei der DLV ja neuerdings postuliert, sich nicht mehr von den nackten Statistiken leiten zu lassen. Es heißt, man müsse auch mal mit hinteren Platzierungen zufrieden sein. Als Paradebeispiel des neuen Denkens gilt der Zehnkämpfer und Silbermedaillengewinner Michael Schrader, der von 2009 bis 2013 keinen Wettkampf beenden konnte. Nach den strengen Normkriterien der Vergangenheit hätte der 26-Jährige gar nicht nach Moskau fahren dürfen. Inwieweit sich das Bundesinnenministerium, dessen Steuergeldzuflüsse an die Sportverbände auch anhand von Medaillenplänen geregelt wurde, diesem Denken öffnen will, ist unbekannt. Insofern dürfte es doch von Bedeutung sein, dass der DLV am Sonntag bilanzieren konnte: viermal Gold, zweimal Silber und einmal Bronze.