Die unendliche Linie transkribiert

KUNST Die New Yorker Buch- und Performance-Künstlerin Elena Berriolo schafft durch den Einsatz von Faden und Nähmaschine eine wahre dreidimensionale Linie, die sich im Raum und durch die Fläche bewegt

■ lebt und arbeitet als Buch- und Performancekünstlerin in New York. Seit 2009 arbeitet sie ausschließlich an Künstlerbüchern, die sie in Unikaten oder kleinen Auflagen herstellt. Am 11. Juli war sie mit ihrer Performance zu Piero Manzonis Unendlicher Linie bei REH Kunst und This Red Door in Berlin zu sehen. Auch diese Performance führt zu einem Buch. Während Berriolo an der Nähmaschine saß und die Bändel von blauen Luftballons auf ein weißes schmales Band nähte und damit Piero Manzonis „Unendliche Linie“ von 1960 in dreidimensionale, fliegende Linie transkribierte, entspann sich mit ihrem Assistenten ein Dialog, den wir auf unserer Seite dokumentieren. Als eine ebenso anregende wie konzise Auseinandersetzung mit der italienischen Nachkriegsavantgarde, besonders Lucio Fontana und dem weniger bekannten, aber nicht weniger folgenreichen Werk von Piero Manzoni.

DIALOG ELENA BERRIOLO

Was ist eine Nähmaschine?

Eine Nähmaschine ist ein Instrument, das dafür verwendet wird, Stoff und andere Materialien mit einem Faden zusammenzunähen. […] Aber vor allem zieht die Nähmaschine eine Linie. Um eine Linie zu ziehen, brauche ich zwei Fäden, einen oberhalb und einen unterhalb auf einer Spule liegenden Faden. Beide Fäden werden durch das von der Nadel gestochene Loch verbunden. Währenddessen die Maschine ein Linie zieht, macht sie ein Geräusch; ein Takt abhängig vom gewählten Stichmuster.

Ist es möglich, mit einer Nähmaschine zu zeichnen?

Wenn wir vom Zeichnen sprechen, ist das erste Instrument, was uns einfällt, der Stift. Der Graphit des Bleistifts penetriert das Papier nicht, er liegt auf der Oberfläche und wir können ihn wegradieren, wenn wir einen Fehler machen. Wenn du ein bisschen mutiger bist, kannst du den Versuch machen, mit einem Füller zu zeichnen. Da die Tinte des Füllers tief ins Papier eindringt, ist es schwieriger, diese zu löschen; es ist eine weitaus tiefere Linie als die eines Bleistifts. Aber wenn die/der Künstler/in richtig kühn ist und an die Wahrheit ihrer/seiner Geste glaubt, so kann sie/er noch viel tiefer gehen; so tief, dass das Ende der Fläche erreicht ist, die andere Seite. So wie Lucio Fontana mit seinem Messer. Ich bin Fontana dankbar, dass er uns die Rückseite der Leinwand offenbart hat. Dennoch verwundete, gar attackierte er die Leinwand und machte es so dem Gemälde schwer, eine abgebildete Linie zu tragen, sodass das Gemälde so präpariert werden musste, dass es solch einer Attacke standhalten konnte. Ich möchte annehmen, dass er sich die Frage gestellt hat: „Ist es möglich, eine Linie zu ziehen, die so tief ist wie die eines Messers, die aber nicht die Stabilität des Werkes untergräbt?“ Die Antwort auf die Frage war wahrscheinlich zum Greifen nah, direkt neben ihm. Es war die Nähmaschine. In der Tat kann sie eine wahre dreidimensionale Linie ziehen, sehr ähnlich zu der, die Fontana mit einem Messer zog, jedoch ohne die Oberfläche derartig stark zu verletzen. Vor allem aber zieht die Nähmaschine – im Gegensatz zu dem gewaltvollen Akt des Messers gegenüber der Haut des Werks – eine friedliche Linie. Es handelt sich um eine Linie, die so unbestreitbar und tief ist wie die eines Messers, aber […] die Nadel (die Waffe) ist nicht in meiner Hand und die Linie wird dadurch gezogen, dass ich das Papier unter ihr hinwegschiebe.

Warum möchtest du Piero Manzonis Unendliche Linie mit einer Nähmaschine transkribieren?

Die Idee, Piero Manzonis Linie zu transkribieren, ist bedingt durch mein Interesse für Musik. Ich bin bildende Künstlerin und habe mich vor etwa 5 Jahren einzig dem Buchformat verschrieben. Ich mache ein Buch, so wie ein/e andere/r Künstler/in ein Bild malt. Die meisten meiner Bücher sind nach Musikstücken benannt. Viele Musiker/innen haben Musik von einem Instrument für das andere transkribiert. Zum Beispiel hat Busoni J. S. Bach von Violine für Klavier transkribiert. Also dachte ich: Wieso kann ich nicht zum Beispiel Lucio Fontanas Vorgehensweise am Gemälde für die Nähmaschine am Buch transkribieren? Ich habe drei Bücher von Transkriptionen Lucio Fontanas gemacht, indem ich eine Nähmaschine einsetzte, meist ohne Faden. Seither denke ich darüber nach, auch Piero Manzonis Unendliche Linie zu transkribieren. Durch den Einsatz eines Fadens in der Nähmaschine kann ich eine wahre dreidimensionale Linie schaffen, die sich im Raum und durch die Fläche bewegt. Weshalb nähst du Ballons mit in die Linie ein?

Die Ballons und ihre Farben sind inspiriert durch Yves Kleins Aussage: „Wir sollten Luftmenschen werden, wir sollten die Anziehungskraft nach oben, in den Raum, gen nichts und alles zur gleichen Zeit kennen und damit die Erdanziehungskraft dominieren; wir sollten wörtlich frei schweben, eine absolute physische und spirituelle Freiheit.“

Wieso, glaubst du, hat Piero Manzoni sich dazu entschieden, eine Unendliche Linie zu schaffen?

Seit den Zeiten der Höhlenmalerei ist die markierende Linie Hauptinstrument zur symbolischen Repräsentation. Ein Beispiel: Wenn wir uns in einer Höhle befänden und ich die Vorstellung eines Pferds mit dir teilen wollte, könnte ich es mir an einer Höhlenwand „vorstellen“ und dann eine Linie um die „vorgestellten“ Konturen ziehen. So wären du und ich, während ich zeichnete, in der Lage, etwas zu sehen, das vorher nicht sichtbar war. Da ich aber kein Höhlenmensch, sondern eine zeitgenössische Künstlerin bin, habe ich das Recht zu behaupten, dass das Pferd – bezeichnet durch meine Linie – meins ist. Das Recht der Eigentümerschaft bezüglich des Raums, der durch eine umlaufende Linie begrenzt wird, ist der Grund, warum Piero Manzoni eine Linie schaffen wollte, die um die gesamte Erde hätte herumgelegt werden können. So konnte er behaupten, die Erde sei seine künstlerische Arbeit. Er hat die Länge des Nullmeridians gewählt: Ich halte seine Idee für fantastisch, da er durch das Ziehen dieser Linie den Versuch machte, als Künstler auch ein Recht auf Zeit zu erheben.

Ist es möglich, Zeit zu repräsentieren?

Greenwich Mean Time (mittlere Greenwich-Zeit) ist eine Vorstellung und daher unsichtbar. Man denkt, es sei unmöglich, Zeit zu repräsentieren. Aber da sie unsichtbar ist, müssen wir daran glauben, dass die Linie Zeit repräsentieren kann, genauso wie die Linie die Vorstellung eines Pferds auf einer Höhlenwand zu repräsentieren vermag. Dafür wurde die Linie seit Beginn der Menschheit eingesetzt: um das Unsichtbare sichtbar zu machen. Piero Manzonis Unendliche Linie repräsentierte und schloss neben Raum auch Zeit mit ein. Schlussendlich ist der Grund, warum man keine unendliche Linie ziehen kann, der, dass niemand für immer leben kann.

Ist es möglich, Zeit innerhalb eines Buches zu repräsentieren?

Ich bin der Meinung, dass jedes Buch Zeit repräsentiert. Wenn wir ein Buch auf dem Tisch liegen sehen, können wir nur beim Anblick dessen voraussagen, wie lange wir brauchen würden, es zu lesen, und wie viel Zeit es die/den Verfasser/in gekostet hat, es zu schreiben, indem wir die Anzahl der Seiten schätzen. Die Seiten eines Buches sind Einheiten individueller Zeit. Eine Stunde ist für jede/n eine Stunde, aber eine Buchseite repräsentiert einen anderen Betrag an Zeit für uns, da es sich um einen emotionalen Betrag handelt. Die Möglichkeit von Eigentümerschaft in Bezug auf Zeit, die vom Buch repräsentiert wird, ist der Grund, warum ich mit der Nähmaschine arbeite. Durch das Verfolgen einer Linie durch die Oberfläche und das Einbeziehen der gesamten Buchseite, bin ich in der Lage, in Form einer Zeiteinheit Eigentümerschaft auf sie zu erheben. Dieser Prozess wird für die Länge von 16 Seiten wiederholt, die insofern nicht meine Zeit „repräsentieren“, sondern in der Tat mein Leben sind, indem ich sie durch die von mir gezogene Linie als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durchlebt habe.

■ kurz für Conte Meroni Manzoni di Chiosca e Poggiolo (1933–1963) gilt, trotz seines kurzen Lebens, als einflussreichster Künstler der italienischen Nachkriegskunst. Weithin bekannt wurde er 1961 mit seiner eingedosten „Merda d’artista“. Zu Ehren Manzonis, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte, richtet das Frankfurter Städel Museum diesem zentralen Künstler der europäischen Nachkriegsavantgarde die Schau „Piero Manzoni. Als Körper Kunst wurden“ aus. Die groß angelegte Präsentation ist überhaupt die erste Manzoni-Retrospektive im deutschsprachigen Raum und erste umfassende museale Präsentation außerhalb Italiens seit über zwei Jahrzehnten. Bis 22. September 2013 zeigt die Ausstellung im Städel Museum die Radikalität seiner facettenreichen künstlerischen Position. Über 100 Arbeiten aus allen Schaffensperioden des Künstlers ermöglichen einen komplexen Einblick in ein bis heute virulentes Werk zwischen Informel und dem Aufkommen eines neuen Kunstbegriffs, zwischen klassischer Moderne und Neoavantgarde, zwischen Kunst und Alltag.

Wieso benutzte Piero Manzoni nicht eine Nähmaschine?

Im Italienischen bedeutet „punto“ Punkt, Stich und Fleck auf einmal. Es wäre sehr einfach für Piero Manzoni gewesen, beim Bilden einer Linie an Stiche zu denken; schließlich habe ich als Italienerin auch so über die Linie nachgedacht. Wieso hat er bei der Unendlichen Linie nicht an den Einsatz einer Nähmaschine gedacht? – Das werde ich nie verstehen. Da die Herausforderung bestand, eine ununterbrochene Linie von erheblicher Länge zu bilden, verwendete Manzoni beim Ziehen seiner Linien Zeitungspressen und andere komplizierte und preisaufwendige mechanische Geräte. Er hätte doch einfach dieses simple, tragbare und ökonomische Gerät verwenden können. Die Nähmaschine hätte es ihm ermöglicht, eine unendliche Zahl an Oberflächen miteinander zu verbinden, während er in der Lage gewesen wäre, eine ununterbrochene Linie zu ziehen, solange er lustig gewesen wäre.

Weshalb verwendest du eine Nähmaschine?

Ich setze die Nähmaschine seit über 20 Jahren für meine Arbeiten ein. Vorher war ich eine dieser Künstlerinnen, die sich darüber freute, zu hören: „Ich liebe deine Arbeiten! Niemand würde jemals glauben, dass sie von einer Frau gemacht wurden!“

Die Nähmaschine war und ist ein Instrument, das es mir ermöglichte zu zeigen, dass ich mich nicht mehr schämte, eine weibliche Künstlerin zu sein. Ich habe sie bereits für dreidimensionale Objekte eingesetzt, aber dann machte ich den Versuch, auf Papier mit ihr zu arbeiten, und erkannte völlig neue Möglichkeiten für mich. Vor allem kann ich mit ihr auf beiden Seiten der Fläche zur gleichen Zeit arbeiten. Die Nähmaschine ist das einzige Werkzeug, mit dem es möglich ist, eine dreidimensionale Linie zu schaffen, die sich innerhalb eines Buchs durch die Fläche und im Raum bewegt.

Aus dem Englischen übersetzt von Julia Phillips