Ein Fortschrittsbericht

In einem Jahr soll Rumänien zur Europäischen Union gehören. Doch in der EU-Kommission macht man sich „ernste Sorgen“ über schleppende Reformen. Eine Reise in ein Land, in dem noch vieles wirkt wie aus einer anderen Zeit

AUS BUKAREST UWE RADA

Mit einer halben Stunde Verspätung landet der Airbus von Czech Airlines auf dem Flughafen Bukarest-Otopeni. Kein freundliches Ankunftswetter, trübe auch der Ausblick: Am Ende der Rollbahn stapelt sich lauter Flughafengerümpel. Verrostete Gangways aus Zeiten, in denen das Fliegen noch ein Abenteuer war; Fahrgerät, dessen Funktion nicht mehr zu bestimmen ist, dazu Arbeiter, die sich kaum Mühe geben, beschäftigt zu wirken. Bukarest-Otopeni: mein erster Eindruck von Rumänien, das in einem Jahr zur Europäischen Union gehören will.

Der zweite ist das Grenzregime. Es gibt nicht viele EU-Bürger, die mit mir von Prag nach Bukarest geflogen sind. Der EU-Pass, auch in Bukarest-Otopeni ist er ein Privileg. Nur kurz schaut der Grenzer auf. Dann stempelt er: Einreise, 9. November 2005. Vor sechzehn Jahren fielen die Mauer in Berlin und der Eiserne Vorhang in Europa. Seitdem, heißt es, kehren die ehemaligen Ostblockstaaten in dieses Europa zurück. Mein Eindruck: Ich bin es, der zurückkehrt – in die Vergangenheit.

Anne, eine Freundin, ist gekommen, um mich abzuholen. Einen Koffer habe ich nicht zu tragen, vorerst zumindest. Der blieb in Prag. „Morgen wird er Ihnen nach Hause geliefert“, verspricht die Mitarbeiterin der Airline und nimmt meine Personalien auf. Ein Trost, immerhin.

„Der Weg nach Europa, von dem die Menschen in Rumänien wie vom Weitsprung reden, hat Meilenstiefel nur in der Vorstellung. Und jenseits der Stirn trägt er klobige Schuhe und tritt auf der Stelle. Da bleibt der Schuh an den eigenen Füßen halb zerrissen und schmal. Und geht auf dünnen Sohlen in die Armut.“ Schreibt Herta Müller, die rumänische Dissidentin deutscher Abstammung, die das Land 1987 verlassen hat. Ist sie verbittert? In Europa scheint man ihre Worte anders verstanden zu haben, als sie gemeint waren, mehr als Warnung denn als Aufruf zur Anteilnahme. Wundert es mich? Wahrscheinlich nicht. Ich, der ich seit über zwanzig Jahren in Berlin lebe, habe dort schon vor dem Fall der Mauer gelernt: Rumänien, das ist nicht Europa, sondern Balkan. Dazu kam noch ein Diktator, der seinem Größenwahn tausende von Dörfern und ein Fünftel der Hauptstadt opferte. Die Folge: bittere Armut, Hunger, unbeheizbare Wohnungen, streunende Hunde und streunende Kinder.

Es hat auch einmal eine andere Bewegung gegeben, eine von West nach Ost. Auf dem Weg von Otopeni in die Stadt drängt sie sich förmlich auf. Breite Boulevards, verzinkte Dächer, sternförmig angelegte Plätze, all das zeugt von der Vergangenheit einer Stadt, die einen eigenen Mythos geboren hat: das „Paris des Ostens“. Es war in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts, da lösten die Bukarester Architekten, ausgebildet an der Pariser „École des Beaux Artes“, die Verfechter des bis dahin herrschenden Eklektizismus ab. Die Architektur des Landes, das erst 1861 mit dem Zusammenschluss von Moldau und Walachei entstanden war, orientierte sich fortan an Europa. Das galt nicht nur für die Bauten, die an den großen Boulevards entstanden, oder das 1888 von dem französischen Architekten Paul Gotterau errichtete „Athenäum“. Auch zahllose Villen wurden in französischem Stil errichtet. Frankreich, das war vor dem Fin de Siècle der Gegenentwurf zum anderen Mythos der Stadt – dem des „Tors zum Orient“, als das es der Bukarester Dichter Ion Luca Caragiale beschrieben hatte.

Während Anne mit mir durch den Triumphbogen fährt und in die Calea Victoriei einbiegt, die alte Prachtstraße Bukarests, überprüfe ich mein Bild von der Zweieinhalbmillionenstadt. Ich hatte Fotografien von riesigen Verkehrsachsen und Aufmarschplätzen gesehen und natürlich auch vom „Haus des Volkes“, das nun „Palast des Parlaments“ heißt und das nach der bebauten Fläche hinter dem Pentagon zweitgrößte Gebäude der Welt ist. Ich habe gelesen von bettelnden Romakindern, den Klebstoff schnüffelnden Straßenkindern vom Gara de Nord, von den streunenden Hunden, die just in dem Moment zur Plage wurden, als Ceaușescu ganze Viertel niederlegen und die Bewohner an den Stadtrand schaffen ließ, um seinen gigantischen Palast bauen zu können.

Und wirklich: An dieser Stadt scheint mir alles eine Spur zu groß, zu ambitioniert, zu monumental, selbst der bedauernswerte Zustand der meisten Gebäude hat in seiner Konsequenz etwas Apodiktisches. Dass ein Großteil der bröckelnden Fassaden und mit ihnen die Bewohner der Häuser hinter riesigen Werbebannern verschwinden, macht die Sache nicht besser.

Nach einer Dreiviertelstunde kommen wir an. „Cotroceni“, sagt Anne und legt etwas Stolz in ihre Stimme. „Ein Villenviertel mitten in der Stadt.“ Unsere Villa, mein Domizil für eine Woche, ist ein so genannter Waggon, ein quer zur Straße gebauter einstöckiger Gebäuderiegel mit neoklassizistischer Fassade und einem idyllischen, wenn auch etwas heruntergekommenen Garten davor. „Waggon“, klärt mich Anne auf, „heißt es deshalb, weil alle Zimmer im Haus angeordnet sind wie in einem Eisenbahnwaggon.“ Mit dem Unterschied allerdings, dass es hier keinen Korridor gibt und jedes Abteil respektive Zimmer nur über das jeweils nächste erreicht werden kann. Durchgangszimmer als Luxus, warum auch nicht.

Eigentlich gehört der „Waggon“ Roxana und Oana, zwei Mittvierzigerinnen, die zusammen mit ihrer Mutter Gina in Cotroceni leben. Für das Kunstprojekt „Bucharest – Buchawork“, das Anne Peschken zusammen mit Marek Pisarsky und den in Krakau lebenden Künstlern Bogdan Achimescu und Monika Bielak auf die Beine gestellt hat, haben die Bukarester Frauen ihr Domizil geräumt.

Ich schaue mich um: Auf dem Stäbchenparkett meines Durchgangszimmers liegt ein Perserteppich, an den Wänden hängen vergilbte Fotografien, ein paar Ölgemälde und Frauenakte, wahrscheinlich selbst gemalt. In der Küche haben Anne, Marek, Bogdan und Monika den ganzen barocken Plunder hinter weißen Stoffbahnen versteckt, die Bilder und Wände mit weißem Packpapier überklebt. So ist ein Labor entstanden, in dem der Wechsel der Zeiten und der Ästhetik geprobt wird. Und auch ein anderer Umgang mit den Bildern, die dieses Land hervorbringt. Auf seinem Laptop zeigt Bogdan Fotos, auf denen die Menschen nicht wie so oft hinter der Armut verschwinden, sondern ihre Geschichten erzählen. Eine Fotostrecke zeigt eine Romafamilie, die ihn und die anderen in ihr Haus und ihren Garten eingeladen hatten. Sie wollten zeigen, sagt Bogdan, was sie aus dem Wenigen, das sie besitzen, gemacht haben: unter anderem eine Kinderschaukel, zusammengeschweißt aus Schrott, der ganze Stolz der Familie.

Ein anderes Foto zeigt einen Mann mit Mütze und Kapuze über der Mütze auf einem abenteuerlichen Gefährt, einer Kreuzung aus Traktor und Pferdewagen. Auch dieses Gefährt ist ein Schrottprodukt Marke Eigenbau. Doch das ist es nicht, was die Künstler daran fasziniert. Es ist die Kreissäge, die vorne an diesem Gefährt angebracht ist und dieses fahrbare Ungeheuer zu einem rollenden Sägewerk macht. „Damit fahren sie in den Wald und machen Feuerholz, im Vergleich zur Axt ein Fortschritt“, sagt Marek. In Deutschland dagegen würde man das rollende Sägewerk als weiteren Beweis für die Rückständigkeit des Landes sehen.

„Bucharest – Buchawork“ ist kein Kunstprojekt im eigentlichen Sinne, eher ein auf acht Wochen angelegtes Recherche- und Interviewprojekt zum Thema „Was kann der Westen vom Osten lernen?“. In der Ernsthaftigkeit und Neugier, mit der es Anne, Marek, Monika und Bogdan betreiben, hebt es sich wohltuend ab von den Informations- und Journalistenfahrten, die die Europäische Union und die Regierung in Bukarest kurz vor der Vorlage des zweiten Fortschrittsberichts Rumäniens im Oktober 2005 veranstaltet haben. Das ist mein Eindruck schon am ersten Abend. Zu Gast im Waggon in Cotroceni ist Hella, eine Frau von über fünfzig Jahren in grüner Lodenjacke, die im Bukarester Transportministerium arbeitet und als Vertreterin der deutschen Minderheit nicht umhinkommt, eines ums andere Mal die deutschen Sekundärtugenden zu loben.

Was Rumänien von Deutschland lernen kann?“, wiederholt sie die Frage, die wir ihr stellen. „Pünktlichkeit. Zuverlässigkeit.“ Sie sagt es scherzhaft und damit umso ernster. Und was der Westen von den Rumänen lernen kann? Hella zögert einen Moment und sagt dann: „Wie man etwas, was man will, konsequent in den Sand setzen kann.“ Das klingt, in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit tatsächlich anders als die Statements, mit denen die Brüsseler oder Bukarester Informationsmaschinerie zur selben Zeit die Journalisten aus dem Westen abfertigt – ganz egal, ob es nun darum geht, die Medien vom Fortschritt des Landes zu überzeugen oder mit den Zweifeln vertraut zu machen, die die „Rückkehr nach Europa“ begleiten.

Überhaupt: Rumänien und die Europäische Union. Das ist, wie mir überall erzählt wird, keine Selbstverständlichkeit wie im Falle der baltischen Länder oder wie bei Polen, Tschechien oder Ungarn, den Staaten der letzten Erweiterungsrunde. Eher ist es eine Art Zweckbündnis. Die meisten Rumänen erhoffen von der EU Rückenwind bei der Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption. Andere haben nicht einmal mehr diese Hoffnung, sagt Bogdan, der bis 1989 in Rumänien lebte, danach in den USA Kunst lehrte und nun in Krakau arbeitet. „Bis zu 90 Prozent der jungen Leute wollen das Land verlassen und in den Westen gehen. Sie sehen hier keine Zukunft. Die andern hoffen auf die EU und das Geld, das mit ihr kommt. Aber dass daraus auch was wird, glauben die wenigsten.“ – „Zumindest nicht im Altreich“, ergänzt Hella. „In Siebenbürgen sieht das vielleicht etwas anders aus.“

Am nächsten Morgen ist es kalt. Gott sei Dank hat die Heizung ihren Geist nicht aufgegeben. Manchmal freut man sich über die kleinen Dinge mehr als über einen EU-Fortschrittsbericht. Ich mache mich auf den Weg ins alte Basar- und Handelsviertel. Das liegt zwischen dem Hanul lui Manuc, der alten Karawanserei aus dem 18. Jahrhundert, und der Strada Lipscani, die ihren Namen von den Siebenbürger Sachsen hat, die hier ebenfalls im 18. Jahrhundert ihre Waren aus Leipzig verkauften, wohin sie zweimal im Jahr zur Messe fuhren. Diesen Teil der Altstadt, meinen die Bukarester heute, muss Ceaușescu vergessen haben, als er nach dem Erdbeben von 1977 begann, den Boulevard „Sieg des Sozialismus“ und das „Haus des Volkes“ bauen zu lassen.

Wie dieser Eingriff ins Weichbild und das Leben der Stadt im Alltag der Betroffenen aussah, schildert der Architekt Gheorghe Leahu in seiner wütenden Anklage „Das verschwundene Bukarest“ aus dem Jahre 1995: „Der größte Teil von Bukarest ist ein einziges Schlachtfeld. Wolken von Staub schweben über der Stadt. Das persönliche Hab und Gut der Bewohner in den zum Abriss bestimmten Gebieten wird eilig mit Lastwagen der Armee in die neuen Wohnblocks an der Peripherie gekarrt. Dort warten meist unfertige Apartments auf sie, in denen die Wände noch feucht sind. Bewohner ruhiger Straßen und Wohnviertel in gutem Zustand werden morgens vom Lärm der Arbeiter geweckt, die mit dem Abriss der Dächer beginnen. Die persönlichen Sachen, die sich in einem Leben ansammeln, Möbel, Bücher, Bilder – alles wird in größter Eile weggeschafft. Oft bleibt kaum Zeit zur Räumung, oder es ist unmöglich, alles mitzunehmen. Man zählt mehr als ein Dutzend Selbstmorde, darunter ein Arzt, den Räumungskommandos erhängt in seinem Wohnzimmer vorfinden.“

70.000 Menschen wurden bis 1987 umgesiedelt, um Platz für den Diktator und seine Vorstellung der Stadt zu schaffen, die er und seine Frau Elena von einer Reise ins nordkoreanische Pjöngjang mitgebracht hatten. Auch das Cotroceni-Viertel unweit des Palastes war bedroht, erzählt Gina. Es gab Zeiten, da hat sie jeden Morgen damit gerechnet, dass die Bagger auftauchen und mit dem Abriss des „Waggons“ beginnen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Bukarester den Palast heute nicht nur als Hinterlassenschaft der Ceaușescu-Diktatur betrachten, sondern auch mit einer gewissen Bewunderung. Über sechzig Prozent der Bewohner sind mit dem Palast einverstanden, ja sogar stolz auf ihn. Fortgesetzte Megalomanie als Zeichen für einen tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex?

In der Strada Lipscana ist von Megalomanie wenig zu spüren, auch nicht von Minderwertigkeit. Doch selbst hier, wo die 100.000 Bauarbeiter, die mit Ceaușescus Stadtumbau beschäftigt waren, nicht wüteten, ist die Zerstörung unübersehbar. Es ist eine Zerstörung durch unterlassene Hilfeleistung. Zwischen den ein- und zweistöckigen Handelshäusern aus dem 18. Jahrhundert stoße ich immer wieder auf Baulücken und Ruinen, in denen im Erdgeschoss einige Galerien oder Kunsthandwerker Platz gefunden haben. Mit dem Schick anderer europäischer Altstadtviertel hat das Bukarester Basarviertel nichts gemein. Und doch steht die Strada Lipscani für die Hoffnung Bukarests auf eine andere Zukunft. In den meisten Geschäften hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Da – Nu“, (Ja – Nein). Ja ist ein Votum für die Sanierung des historischen Zentrums, Nein eines gegen seine Isolation. Unterschrieben ist das Plakat von einer „Vereinigung der Investoren“. Einer Bürgerinitiative.

In einem Café, das ich am Rande der Altstadt entdeckt habe, breite ich meine Reiselektüre aus. In einem Bericht heißt es über das Viertel, in dem ich gerade meinen Cappuccino trinke: „Gelbe und blaue Straßenbahnwagen, Tramcars, Bojarenkutschen, Pferdewagen, Fahrräder und jede Menge Volk zu Fuß … aus ebenso viel Straßen und Wegen wie aus ebenso viel Armen eines riesigen Stroms wälzen sich wie in einem lärmenden Meer Wellen über Wellen von Menschen.“ So beschrieb Ion Luca Caragiale, der Bukarest als „Tor zum Orient“ bedichtete, einst das Treiben rund ums Basarviertel und den benachbarten Gheorghe-Platz. Von einem solchen Gedränge ist Bukarest dort, wo es entstanden ist, noch weit entfernt. Aber es ist Bewegung da, Entwicklung.

Caragiales Worte haben mich auch neugierig gemacht auf eine Stadt, in der es, wie viele sagen, noch heute so zugeht wie um die Jahrhundertwende, in der der Dichter seinen Bukarester Orient beschrieb. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, nach Constanţa zu reisen, jene Stadt, die noch heute „Orient“ sein soll. Mit mehr als 300.000 Einwohnern ist sie die zweitgrößte Stadt Rumäniens, hier leben Rumänen, Türken und Tataren auf engstem Raum zusammen. Auf dem Weg zum Gara du Nord, wo ich eine Fahrkarte für den Schnellzug ans Schwarze Meer kaufen will, werde ich allerdings jäh in die Bukarester Wirklichkeit zurückgeholt. Am Rande der Strada Calea Grivitei, die von Cotroceni zum Nordbahnhof führt, liegt ein Menschenbündel auf dem Gehweg. Unter ihm ein Gullydeckel, aus dem warmer Dampf strömt. Es ist kalt geworden im Bukarester November, für manche wird es wohl zu kalt werden. Sechs Millionen der 22 Millionen Rumänen, hatte mir Catalin Berescu erzählt, sind arm. Die Hälfte von ihnen, darunter viele Roma, kommen ohne eigene Kraft nicht mehr auf die Beine. Um wenigstens etwas Aufmerksamkeit auf die Ärmsten der Armen zu lenken, hat Berescu, von Beruf Architekt, im Bukarester Bauernmuseum eine Ausstellung über den Alltag der Roma organisiert. Ob der Junge auf dem Gullydeckel Roma ist oder nicht, weiß ich nicht. Er hat sein Gesicht fest auf den Dampf gedrückt. Ich mache es wie alle in der Strada Calea Grivitei und gehe weiter.

Als ich in Constanţa ankomme, reißt der Himmel auf. An der Promenade spritzt Gischt hoch, das Jugendstilkasino, ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Stadt noch reich war, ist renoviert – und geschlossen. November ist keine Zeit, in der man das Schwarze Meer besucht. Nur am kleinen Bootshafen hat ein Café geöffnet, die Kellnerin bringt den schwarzen Kaffee im weißen Minirock. Sie ist unfreundlich, obwohl ich der einzige Gast bin oder gerade deshalb. Auch das ein Überbleibsel aus kommunistischen Zeiten.

Wo ich sitze, am alten Hafen von Constanţa, hat sich vor knapp 2.000 Jahren auch einer herumgetrieben, der hier nicht zu Hause war, auch ein Fremder. Mit dem Unterschied nur, dass ich freiwillig hier bin, er dagegen zur Verbannung in Constanţa landete, das damals noch römisch war und Tomis hieß. Es ist bis heute nicht ganz geklärt, was Ovid dieses Schicksal bescherte. Waren es die Verse über die „Liebeskunst“, die, wie es heißt, die verheirateten Römerinnen gleich scharenweise zum Ehebruch verleitet hatten? Oder eher eine Mitwisserschaft in einem Familienskandal von Kaiser Augustus?

Sicher ist, dass sich der römische Dichter der „Metamorphosen“ diesem Schicksal, das ihn die letzten acht Jahre seines Lebens ans Ende der römischen Welt führte, gefügt hatte. Das geht nicht zuletzt aus seinen letzten Versen hervor, in denen er die Stadt seiner Verbannung als einen Ort beschreibt, an dem die Natur Blumen hervorbringt, „die auf den Fluren erblühn, ohne dass jemand sie sät“. Und dass dort Bauern leben, die „mit knarrendem Wagen, bespannt mit dem sarmantischen Rind“, die Felder bewirtschaften.

Hat sich seitdem hier etwas getan, oder ist Constanţa noch immer eine Stadt am Ende der Welt, diesmal nur nicht am Ende des Römischen, sondern eines europäischen Reiches namens EU? Constanţa, die Schwarzmeerstadt, in der sich im Sommer die Touristen zu hunderttausenden an den Stränden tummeln, gibt mir darauf keine Antwort, auch nicht das Denkmal von Ovid, das vor dem Archäologischen Museum thront. Constanţa erscheint mir seltsam unwirklich und doch zugleich übermächtig in seinem Anspruch, den Nabel der Welt zu bilden. Selbst der Strand heißt hier „Plaja modern“.

Die Not, aus der Ovid einst eine Tugend gemacht hatte, die Bewunderung des „wahren Lebens“ beim Anblick unverschämter Blütenprachten und Bauern mit „knarrendem Wagen“, sie findet man im Rumänien von heute in Orten wie Babadag, Braila oder Galati. Das zumindest meint der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Stasiuk ist eine Art Nachfahre des späten Ovid, der aus seiner Sehnsucht nach dem Ende der Welt keinen Hehl macht. „Vom Fenster aus sehe ich ein Gespann mit zwei Pferden und vier eingemummten Gestalten auf dem Wagen“, beschreibt Stasiuk in seinem 2005 auch auf Deutsch erschienenen Reisebericht „Unterwegs nach Babadag“ eine seiner Erfahrungen am Rande der Zivilisation. „Die Pferde, wenn auch frisch beschlagen, stapfen übers Eis. Sie sind aus dem Nebel gekommen und kurz darauf wieder verschwunden.“

Stasiuks „Babadag“ lese ich im Intercity, auf dem Weg zurück nach Bukarest. Eine manische Sehnsucht nach dem Anderen, Unfertigen, Anarchischen und Rohen spricht aus diesen Reisebildern, auch wenn der Autor sich selbst als Sammler von Dingen versteht, „die keine Spuren haben“. Dingen also, die auch nicht in die Geschichtsbücher eingehen werden.

Stasiuks Archäologie der spurenlosen Gegenwart verstehe ich erst, als Anne, Marek, Bogdan, Monika und ich uns selbst auf eine solche Reise begeben. Nur führt uns unsere Sehnsucht nicht nach Babadag am Rande des Donaudeltas, sondern nach Ruse, dem Geburtsort des Dichters Elias Canetti, der osmanischen, habsburgischen und nunmehr bulgarischen Stadt, die hinter der einzigen Donaubrücke liegt, die Rumänien mit Bulgarien verbindet.

Vorbei an Straßen mit sich endlos aneinander reihenden Häuserblocks zieht sich die Ausfallstraße nach Giurgiu, dem gegenüber von Ruse gelegenen rumänischen Grenzort am nördlichen Donauufer. Auf halber Strecke tritt Anne plötzlich auf die Bremse. Mitten in der horizontlosen Landschaft vor uns ein Bauernmarkt. Wir halten an, steigen aus, keiner nimmt Notiz von uns, zu wichtig ist das Treiben auf dem Markt, der Verkauf von lebenden und geschlachteten Lämmern, der Handel mit Pferdewagen und Eseln, mit Kühen und allerlei landwirtschaftlichem Werkzeug, von Maschendrahtrollen bis zu Äxten jeder Größe, Pferdegeschirr und überdimensionierten Vogelkäfigen. Beim Anblick der von Wind und Wetter gegerbten Gesichter spüre ich tatsächlich etwas von der Energie, die Stasiuk in Szenen wie diesen gefunden haben muss, und auch von der Trauer, dass diese Welt, sollte sie einmal untergehen, tatsächlich keine Spuren hinterlassen wird. Vom Ende der Welt aus betrachtet, sieht ihr Nabel tatsächlich anders aus, fast ein bisschen lächerlich, ganz gleich, ob er sich nun in Constanţa befindet, in Bukarest oder in Berlin.

Auf dem Rückweg von Ruse, auf der Landstraße zwischen Giurgiu und Bukarest, schreien Bogdan und Marek plötzlich gleichzeitig: „Zawraczaj!“ – „Kehr um!“ Anne wendet sofort. Vor uns knattert eines der „rollenden Sägewerke“, die es den Künstlern von Anfang an angetan haben. „Überhol sie, und halt sie an!“, ruft Marek. Dass die vier Gestalten, die auf dem selbst gebauten Fuhrwerk, angetrieben mit einem Pumpenmotor, wie sie uns später sagen, von einem Renault mit Berliner Kennzeichen ausgebremst werden, verwundert sie nicht. Gemütlich steigen sie von ihrem Gefährt, schieben ihre Mützen hin und her, zünden sich Zigaretten an und wissen augenblicklich: Es geht um sie. Alles wollen Bogdan und Marek über dieses Fahrzeug wissen, während der Motor, der einmal eine Pumpe antrieb, weiter vor sich hin knattert und mit jedem Kolbenstoß Qualmwolken von sich stößt. Blöcke und Bleistifte werden gezückt, Adressen und Telefonnummern notiert. All das passiert gleichzeitig, auf der Straße von Giurgiu nach Bukarest.

Nach einer Dreiviertelstunde ist das Geschäft perfekt. „Sie verkaufen uns das Ding“, sagt Marek, die Erleichterung ist ihm ins Gesicht geschrieben. „5.000 neue Lei samt Überführung. Die haben sogar gesagt, sie fahren das Ding eigenhändig bis nach Berlin.“ – „Und wozu das?“, will ich wissen. „Für eine Ausstellung“, meint Marek. „Dieses rollende Sägewerk sagt mehr über Rumänien als alle Fotos und Bücher.“

UWE RADA, Jahrgang 1963, ist Redakteur im Berlin-Ressort der taz und treibt sich immer wieder gerne in Osteuropa herum