Das wahre Leben

ERZÄHLREIGEN Hoffnung hat hier noch nie gewohnt: „Knockemstiff“ von Donald Ray Pollock

„Winesburg, Ohio“, in einer billigfuselgetränkten Hillbillyversion

VON FRANK SCHÄFER

In einem Ranking der besten Romananfänge des Jahres dürfte dieser nicht fehlen. „Als ich sieben war, zeigte mir mein Vater in einer Augustnacht beim Torch-Drive-in, wie man einem Mann so richtig wehtut. Das war das Einzige, was er wirklich beherrschte.“

Das sind die Sätze, die Donald Ray Pollock wirklich beherrscht. Mit „Knockemstiff“ setzt er dem ewigen Klassiker des Romans aus Geschichten, Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“, eine billigfuselgetränkte, durch den Fleischwolf gedrehte Hillbillyversion entgegen. Das ebenfalls in Ohio gelegene Kaff mit dem sprechenden Namen (knock ’em stiff = schlag ’n tot!) liegt in einer „Senke“, und entsprechend weit unten sind seine Bewohner, all die Schläger, Säufer, Huren, Päderasten, Schwachsinnigen, Mörder und Kleberschnüffler.

Gab es in Sherwood Andersons kleiner Stadt trotz der vielen verbogenen Lebensläufe noch meliorisiendes Potenzial, individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, und vor allem kam man weg aus dem Nest, ist Knockemstiff ein danteskes Pandämonium, in dem man nur mehr alle Hoffnung fahren lassen kann. Obwohl sie sich alle ein besseres Leben ersehnen, das sie aus dem Fernseher kennen, gibt es kaum einen Ausweg aus diesem Loch. Und wenn doch einmal die Flucht gelingt, wie dem 14-jährigen Daniel, lauert da draußen ein fetter stinkender Fernfahrer und setzt ihm eine Perücke auf.

Pollock muss es wissen. Knockemstiff gibt es wirklich. Er stammt von dort, und man sieht es ihm an. Erst mit Fünfzig hat er ein Studium nachgeholt und schließlich angefangen zu erzählen von diesem bildungsfernen, gewalttätigen, polymorph verdorbenen White-Trash-Nest. Sein zweites Buch, „Das Handwerk des Teufels“, vor anderthalb Jahren auf Deutsch erschienen, spielt ebenfalls hier. Auch er kann Knockemstiff nicht wirklich verlassen.

Bobby, Ich-Erzähler der grandiosen Eröffnungsgeschichte „Das wahre Leben“, die tatsächlich hält, was die ersten beiden Sätze versprechen, liefert die Klammer dieses Elendsschicksale sammelnden Erzählreigens. Zunächst wird er Zeuge, wie Daddy auf dem Klo eines Freiluftkinos einen Mann fast totschlägt. Anschließend zwingt ihn sein Vater, auch noch dessen Sohn zu verprügeln. Das anerkennende Schulterklopfen danach ist das Äußerste an Zuneigung, das Bobby von seinem Vater je bekommen wird. In der letzten Story, ein paar Jahrzehnte später, Bobby hat sich nach einer langen Suchtkarriere den Anonymen Alkoholikern angeschlossen und kämpft darum, trocken zu bleiben, besucht er noch einmal seinen schwer herzkranken Vater.

Einen Boxkampf gibt es jetzt auch, allerdings nur im Fernsehen, aber noch immer hat er Angst vor diesem krakeelenden, amoralischen Drecksack, der nur Spott und Demütigungen für ihn übrig hat. Aber plötzlich glimmt da ein Funke Mitleid. „Bei meinem Vater war alles immer nur Kampf gewesen, und mir wurde traurig bewusst, dass wir uns wohl nicht mehr richtig kennenlernen würden, bevor er starb.“

In solchen winzigen Gesten verrät sich der große Moralist, der gerade, indem er eine Welt zeichnet, die fast völlig ohne Güte und Empathie auskommen muss, ihre Notwendigkeit umso deutlicher einschärft. Und es sind auch diese mehr oder weniger versteckten Hoffnungsschimmer, dass Menschlichkeit möglich ist, sogar hier, die bei aller Verwahrlosung die Lektüre erträglich machen. Etwa wenn die Immer-noch-Jungfrau Duane für seine Kumpels eine dreckige Nummer auf dem Rücksitz erfinden muss, damit sie ihn endlich mit dem Thema in Ruhe lassen. Und „Fettsack“, der minderbemittelte Prügelknabe der Gang, den sie als Dartscheibe missbrauchen und der Nancy Sinatra anhimmelt, weil er nie eine echte Frau kennenlernen wird, ihn schließlich ernst ermahnt: „Duane … du solltest nicht so über deine Freundin reden.“

Die Härte seiner Prosa und die gelegentlichen metaphysischen Schlenker, das Hadern seiner geschundenen Protagonisten mit dem gütigen Schöpfergott oder ihre heidnischen Umdeutungen der Dingwelt zu Hostien und Segenszeichen, haben Pollock Vergleiche mit Cormac McCarthy eingebracht. „Er konnte nicht fassen, dass er dort lebte“, heißt es über den heimkehrenden Duane. „Dann sah er nach oben, suchte den hellsten Stern, der am Himmel über Knockemstiff pulsierte, holte aus und schleuderte die Pfeile nach ihm. Er warf, so fest er nur konnte, bis sie alle in der Dunkelheit verschwunden waren.“

Aber während McCarthy und Sherwood Anderson die Schlichtheit und Natürlichkeit in ihrer Prosa immer wieder kontrastieren mit deutlich expressiveren Passagen, bleibt Pollock seinem knochentrockenen, ausgemergelten, komplett bilderlosen Stil treu. Als wollte er sich und uns keine Ausflüchte erlauben.

Donald Ray Pollock: „Knockemstiff“. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2013, 256 Seiten, 18,90 Euro