Der sensible Dokumentar des Alltags

NACHRUF Seine Fotos waren realistischer, als es der sozialistische Realismus erlaubte, für den Überlebenskampf im Kapitalismus war Peter Woelck auch nicht geschaffen. Am 1. März ist er verarmt gestorben

Wovon man nicht reden kann oder darf, davon muss man Bilder machen

VON ESTHER SLEVOGT

Einige seiner Fotos sind so zwingend, dass sie wie Ikonen wirken, wenn man sie zum ersten Mal sieht. Das 1968 entstandene Bild vom Bau des Fernsehturms am Alexanderplatz zum Beispiel, der sich langsam über kriegsverschonte Reste Altberlins erhebt, die schon bald darauf verschwunden sein würden. Einer Planung für ein künftiges, surreales Berlin geopfert, dessen Ausmaße eher für ein kommendes Titanengeschlecht gedacht zu sein schienen und über dessen enorme Straßen, denen die kleinen Häuser kurz darauf weichen mussten, dann jedoch nur die winzigen Trabants fahren würden.

Dieses Bild war eines der auffälligsten, mit denen Peter Woelck die großen Fenster der von ihm bewohnten Ladenwohnung auf der Kastanienallee Ecke Schwedter Straße gepflastert hatte, an denen man stets staunend vorüberging: über die launige Gruppe von Müllmännern, die mit ihrer schmutzigen Kluft lässig an einem Barkas-Kleintransporter lehnen. Oder über das Porträt eines Müllmanns mit Marlon-Brando-Appeal, der fast das utopische Bild vom Titanengeschlecht des neuen Menschen zu erfüllen schien, von dem der Sozialismus immer träumte. Und es dabei gleichzeitig ad absurdum zu führen schien.

Es dauerte lange, bis man begriff, dass der Bewohner der etwas heruntergekommenen Wohnung mit dem Fotografen dieser unglaublichen Bilder identisch war. Bis man nämlich eines Tages hineingegangen war und Peter Woelck kennen lernte. Urgestein aus der Kastanienallee, lange bevor sie als „Casting-Allee“ zur Glamourmeile des „Neuen Berlin“ nach 1989 geworden war, das langsam auch schon in die Jahre kommt.

Ein Mann, der mit seiner langen hennaroten Mähne und den engen Jeans mit den breiten Silbergürteln um die schmalen Hüften wie ein alter Glamrocker wirkte, Märchenprinz eines vergangenen Rockzeitalters, der auf seinem abgewetzten Kunstledersofa immer noch darauf wartete, wachgeküsst zu werden. Und der am 1. März 2010 plötzlich gestorben ist.

Wenige Tage zuvor hatten Freunde seine Wohnung ausräumen müssen, in der er seit 1982 gelebt und gearbeitet hatte. Denn nach eineinhalb Jahren hatte er den Kampf mit den Miethaien um diese prominente Lage unmittelbar an der Grenze zwischen den Stadtteilen Mitte und Prenzlauer Berg endgültig verloren. An der provisorischen Finissage Ende Februar, wo an die kahlen Wände der ausgeräumten Wohnung noch einmal Drucke seiner Fotos geheftet worden waren, konnte er nicht mehr teilnehmen. Denn da lag er schon mit einer Krebserkrankung im Krankenhaus, die im September 2009 diagnostiziert worden war. Einen Ort, wohin er von dort hätte zurückkehren können, gab es nicht mehr.

Peter Woelck wird am 12. April 1948 in Wilhelmshagen geboren. Er wächst bei den mütterlichen Großeltern in Köpenick auf, unter der strengen, aber fürsorglichen Fuchtel eines Großvaters, der noch im Kaiserreich sozialisiert worden war. Eine typische Nachkriegskindheit mit Eltern, die zu sehr mit dem Aufbau des eigenen Lebens beschäftigt sind, um sich um den zarten kleinen Sohn zu kümmern, der früh fühlt, dass in ihm etwas schläft, was Erwachsene ein musisches Talent nennen würden. Und für den das Klavier des Großvaters zum Sehnsuchtspunkt wird, das zu berühren ihm bei Strafe verboten ist.

Fotografieren als Flucht

Sein Instrument wird eine Kamera, die er als Zehnjähriger geschenkt bekommt. Er entdeckt das Fotografieren auch als Fluchtweg aus seinen repressiven Lebensumständen. Zunächst aus der Familie, später auch aus dem Staat, dessen Enge Peter Woelck in ebenso bedrückenden Bildern einzufangen versteht, wie er Momente explodierenden Glücks im Allerprivatesten auf seinen Fotos festhält. Wovon man nicht reden kann oder darf, davon muss man Bilder machen.

Es ist dieses Schweigen, dem Woelcks Fotografien ihre unerhörte Intensität verdanken, ihre dokumentarische Prägnanz. Immer spricht aus all seinen Bildern stets auch eine tiefe Empathie mit denen, die darauf zu sehen sind – wie zum Beispiel abgearbeitete Bergarbeiter aus dem Uranabbau im Erzgebirge oder Leipziger Spießer, die das Weite der sozialistischen Stadtplanung plötzlich beklemmend eng wirken lassen.

Mit zwanzig, 1968 also, wird Woelck von zwei Großmeistern der DDR-Fotografie, Arno Fischer und Sybille Bergemann, in den Elite-Zirkel „Club Junger Meister“ eingeladen. Fischer wird bald darauf als Gastdozent für Fotografie nach Leipzig an die bedeutende Hochschule für Grafik und Buchkunst berufen, wo 1972 auch Woelck sein Studium aufnimmt. In diesen Leipziger Jahren entstehen viele seiner schönsten und bedeutendsten Bilder.

In der DDR hält er sich lange Jahre als freier Fotograf über Wasser, kriegt mit drei Frauen drei Kinder, wird nicht in den Verband Bildender Künstler der DDR aufgenommen, weil seine Fotos zu realistisch sind, um den Vorstellungen, die der sozialistische Realismus von der Wirklichkeit hat, gerecht zu werden.

Kurz vor der Wende geht Woelck im August 1989 als einer der Letzten aus seinem Freundeskreis in den Westen. Im November 1989 kehrt er in seine Ladenwohnung an der Kastanienallee zurück, die den Zeitenwechsel fast unberührt überstanden hat. Den Schlüssel hatte er behalten.

Allerdings stellt sich bald heraus, dass Paradiesvögel wie Woelck für den Überlebenskampf auf freier Wildbahn nicht gerüstet sind. Er arbeitet Anfang der 90er-Jahre als Fotoreporter für eine Boulevardzeitung, die bald wieder eingestellt wird, versucht, in der Werbung Fuß zu fassen- und verdient am Ende sein Geld mit Fotos für die Schautafeln von Imbissen. Wenn er überhaupt etwas verdient.

Die absurde Sozialgesetzgebung macht den Fotokünstler schließlich zum Sozialfall, zwingt ihn, seinen Beruf aufzugeben, um zuwendungsberechtigt zu werden. Trotzdem streift Woelck bis zuletzt mit der Kamera durch die Stadt, verkauft seine Bilder an zufällig in seinen Laden kommende Flaneure und Touristen. Am besten natürlich die Müllmänner und den wachsenden Fernsehturm. Bis man ihm mit der Wohnung in jeder Hinsicht die Existenzgrundlage nimmt.