Tödliche Willkür

Deportation ins Gas: Das Stück „Ihr Lieben, viel zu weit Entfernten“, das jetzt im Lichthof Theater Premiere hat, erzählt die wahre Geschichte der 17-jährigen Louise im von Nazis besetzten Frankreich

von Katrin Jäger

Frankreich, August 1942. Paris ist besetzt von den Nazis, die 17-jährige Gymnasiastin Louise Jacobson wird festgenommen. Ohne Grund, wie das Mädchen findet. Unermüdlich schreibt sie Briefe an ihre Familie, erst aus dem Gefängnis in Paris, ein paar Wochen später aus dem Deportationslager in Drancy.

Erst 1989 hat Louises Schwester, Nadia Kaluski-Jacobson, die Briefe als Buch herausgegeben. Es bildet die Grundlage des Stücks Ihr Lieben, viel zu weit Entfernten, das am Donnerstag im Lichthof Theater Premiere hat. „Es kommt auf den Text an“, sagt Regisseur Marcel Weinand. Deshalb hält er seine Inszenierung schlicht; die einzigen Requisiten sind ein papiernes Hakenkreuzfähnchen und ein Volksempfänger. Freda Heyden hat zwei flache Rutschen aus silberfarbenem Holz nebeneinander auf die Bühne gestellt. Die Schauspielerin Judith Compes sitzt darauf, begibt sich in die Schräglage, klettert hinauf, um wieder herunterzurutschen. Sie hat Mühe, sich zu halten, ständig ringt sie um Balance. So zeigt sie, im körperlichen Ringen mit der Schwerkraft, Louises Kampf mit ihrer Situation. Auch das Mädchen bemüht sich, nicht abzurutschen, etwa in die Vulgärsprache ihrer Mitgefangenen. Sie versucht trotz miesen Essens, stupider Näharbeiten und der eintönigen Tagesabläufe bei Laune zu bleiben. „Was kann ich euch erzählen – nichts. Alles ist so wie immer“, schreibt sie.

Compes, über 30 Jahre älter als Louise, und doch die Nachgeborene, übernimmt in diesem Monolog die Rolle der Erzählerin. Sie will die Phantasie der Zuschauenden anregen, nicht aber vollständig in die Rolle des Mädchens schlüpfen. Das tut sie nur am Schluss ein wenig, als das Drama sich zuspitzt. 1943 bringen die Nazis Louise nach Auschwitz gebracht. Dort stirbt sie im Gas.

„Ich versuche, in der ersten Hälfte des Stücks zu dem Mädchen Louise zu gehen, und in der zweiten Hälfte mit ihr zu gehen“, sagt die Schauspielerin. In Vorbereitung auf das Stück ist sie Louises Spuren gefolgt, nach Paris, in ihr Wohnhaus, in ihre Schule. „So wurde das Mädchen auf einmal sehr präsent“, erinnert sie sich.

Das Deportationslager in Drancy ist heute eine Siedlung mit sozialem Wohnungsbau. Nur ein Mahnmal und ein Raum erinnern an die Menschen, die hier einst wie auf einer Rampe Richtung Tod lebten. Ähnlich wie die im Warschauer Ghetto Gefangenen organisierten sie ihr Leben unter den erniedrigenden Umständen weitgehend selbst. Davon berichtet auch Louise in ihren Briefen. Judith Compes erzählt, wie Louise im Lager zur Schule geht, dass ihr Philosophielehrer ehemals ihre Schwester Nadia unterrichtet hat, dass sie ihre Tante Rahel wiedergetroffen hat, die „so lieb“ ist. Dass sie und ihre zehn Zimmergenossinnen ein leckeres Weihnachtsessen zaubern wollen, dass der Vater ihr Kniestrümpfe schicken soll, für die Entlassung.

Das Lagerleben, so wie Louise es beschreibt, sei „unheimlich normal“, findet der Regisseur Marcel Weinand. Wie eine Beschwörung klingt der immer wiederkehrende Wunsch nach Kniestrümpfen für die erhoffte Entlassung. Noch mehr, weil Judith Compes stets Distanz hält. Sie überlässt die Gefühlsregungen dem Publikum. Die Inszenierung setzt auf die Kluft zwischen der todbringenden Situation des Mädchens und ihrer Hoffnung, ihrer Lebenslust und ihrem Mut, sich dem grotesken Lageralltag zu stellen. Als sie von ihrer Verlegung nach Auschwitz erfährt, schreibt sie ihrem Vater in einem letzten Brief: „Kopf hoch, und bis bald.“

Premiere Fr. 24. 2., 20.15 Uhr, Lichthof Theater am Alten Gaswerk, Mendelssohnstr. 15 Weitere Termine: 25. 2., 20.15 Uhr, 26. 2., 20.15 Uhr, 27. 2., 11 Uhr sowie 1. 3., 11 Uhr. Die letztgenannten Termine sind Schulvorstellungen, für die Anmeldungen erforderlich sind.