Krisengebiet Schule

Migranten werden im Bildungswesen nicht direkt rassistisch benachteiligt. Der Fehler liegt im System

„Das deutsche Bildungssystem ist ethnisch segmentiert“

VON CHRISTIAN FÜLLER

Der Vorgang ist für eine Industrienation, die modern sein will, ungeheuerlich. Seit Montag befindet sich ein Sondergesandter der Vereinten Nationen auf Deutschlandreise, um hier das Schulsystem zu begutachten. Nein, Vernor Muñoz Villalobos kommt nicht auf Einladung der Bundesregierung.

Der Professor für Zivilrecht aus Costa Rica absolviert eine Inspektionsreise. Er kommt ausdrücklich als Anwalt der unteren Schichten und Migranten, um zu überprüfen, ob deren Recht auf Bildung verletzt ist. Kein Scherz des Hohen Beauftragten für Menschenrechte in Genf, sondern ein seriöser Arbeitsauftrag.

„Das ist wieder so eine total verkrampfte Aufregung“, kommentierte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) ziemlich empört, als sich die Zeitungen wagten, den Besuch des UN-Kommissars für Bildung mitzuteilen. „Als käme hier jemand und würde Menschenrechtsverletzungen an deutschen Schulen begutachten.“ Dagegen verriet die führende konservative Tageszeitung FAZ ganz unverkrampft, was sie von Chancengleichheit aller Bürger und Menschen hält: „Die hat es noch nie gegeben und wird es nie geben.“

Muñoz’ Job ist nicht einfach. Wie soll er bei einer 10-tägigen Reise, in deren Verlauf er ein paar Kitas, Grund- und Oberschulen inspiziert, vor allem aber Gespräche führt, Menschenrechtsverletzungen aufdecken? Folterkeller wird er in den Schulen kaum finden. Eher das eine oder andere Loch im Dach und mäßig ansehnliche Schulgebäude. Was also soll Vernor Muñoz’ Besuch?

Die Sache ist nicht so eindeutig, wie man sich das als Bürger wünschen würde. Mit dem Verweis der Bundesbildungsministerin und ihrer Adlati darauf, dass immerhin 85 Prozent der jungen Deutschen einen Abschluss der Sekundarstufe II erringen, ist es jedenfalls nicht getan. Im Durchschnitt der entwickelten, also der OECD-Staaten, sind es zwar nur 63 Prozent, die einen solchen allgemein- oder berufsbildenden Abschluss bekommen. Doch jenseits dieser Zahl gibt es ernste Hinweise auf Probleme in Deutschland.

Allein der Blick darauf, wer welche Schulform besucht, ist zumindest irritierend: 42 Prozent der Migranten erringen einen Hauptschulabschluss, nur neun Prozent das Abitur. Deutsche Muttersprachler hingegen besuchen nur zu 25 Prozent die Hauptschule, ein Viertel schafft das Abitur (siehe Grafik). Der Rückstand der 15-jährigen Migranten in der Lesekompetenz gegenüber Deutschen, so zeigen es die Pisa-Studien, beträgt zwei Schuljahre.

Diese über die Jahre stabilen Verhältnisse werden hierzulande gern mit einem kulturellen Argument wegdiskutiert: Insbesondere die türkischen Einwanderer könnten wegen ihres vormodernen Erbes in den Schulen gar nicht reüssieren, heißt es mit rassistischer Grundierung. Freilich, so fragen Empiriker: Wo sind die Daten, mit denen sich türkischer Habitus als Faktor für schulischen Misserfolg nachweisen ließe? Und: Lässt sich das gleichfalls kümmerliche Abschneiden junger Italiener etwa mit der Rückständigkeit der Kulturnation jenseits der Alpen begründen?

Das Stichwort, um das es hier geht, heißt institutionelle Diskriminierung. Es wird von den Pisa-Forschern, die – freundlich gesagt – nicht gänzlich unabhängig von den Kultusministern arbeiten, tunlichst vermieden. Denn die wollen lieber nicht untersuchen, welche Effekte die sehr frühe Sortierung der Schüler auf drei, vier, manchmal noch mehr Schulformen auf den Bildungserfolg von Migranten hat. Die Minister wissen schon, warum.

Aber den Menschenrechtsinspektor Venor Muñoz Villalobos dürfte es interessieren, was etwa Heike Diefenbach zum Thema Schulsystem und Migration zusammengetragen hat. „Man kann tatsächlich von einer ethnischen Segmentierung des deutschen Bildungssystems sprechen“, schreibt die Münchner Soziologin. Was heißt das? „Die frühe Trennung ist nicht nur für Migrantenkinder problematisch, aber für sie besonders“, sagte Diefenbach der taz.

Was Diefenbach herausgefunden hat, ist keine neue Entdeckung. Nur hat sie die vielen systematischen Nachteile für Migranten so detailliert belegt, dass nicht nur Señor Muñoz blass werden dürfte: Migrantenkinder erhalten weniger vorschulische Förderung, sie werden häufiger zurückgestellt, sie bekommen deutlich häufiger eine Hauptschulempfehlung, sie haben eine geringere Lesekompetenz, sie blieben zu 20 Prozent ganz ohne Schulabschluss – und: Das ist nicht Zufall, nicht kulturelle Bildungsferne, sondern ein systembedingter Effekt.

Die R-Frage, also die Frage, ob Zuwanderer ganz schnöde rassistisch diskriminiert werden, kann, zum Glück, verneint werden. Vielmehr gibt es, so die Argumentation von Heike Diefenbach, eine Art kumulativer Diskriminierung: Im Verlauf ihrer Bildungskarriere würden Migrantenkinder von deutschen Schülern immer stärker getrennt, sodass im Ergebnis eine ethnische Differenzierung entstehe – in den Abschlüssen, den Kompetenzzuwächsen, den Schulerfolgen.

Was das ist? Eine Umschreibung für die staatlicherseits in Kauf genommene Benachteiligung einer bestimmten Gruppe, oder vulgo: eine Verletzung des Rechts auf Bildung. Vernor Muñoz, übernehmen Sie!