Filmgeschichte als materielle Spur der Vergangenheit

FILMNACHT Gerhard Lamprecht war nicht nur Filmhistoriker und Archivar – über mehrere politische Systeme hinweg verarbeitete er gleich einem wendigen Handwerker die Alltagsgeschichten seiner Zeit zu Unterhaltungskino

Nicht ein Individuum, sondern ein Mietshaus – also die soziale Organisation – wird zum Ausgangspunkt der Erzählung

VON LUKAS FOERSTER

Zuerst war Gerhard Lamprecht ein Sammler: von Filmrollen, Postern, Drehbüchern, von allem, was seine lebenslange Leidenschaft, das Kino, an materiellen Rückständen hinterlässt. Sein umfangreiches, seit der Jugendzeit aufgebautes Privatarchiv übergab er 1962 dem Berliner Senat – die Leitung der ein Jahr später auf Basis dieser Materialien gegründeten Deutschen Kinemathek übernahm er dann zunächst auch gleich selbst. Außerdem war Lamprecht Filmemacher und als solcher ein Sammler von Rückständen anderer Art. In seinen „Filmen ist […] unglaublich viel von Alltagsgeschichte enthalten“, meint Wolfgang Jacobsen, Filmhistoriker und seinerseits langjähriger Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek.

Zum 50-jährigen Jubiläum dieser zentralen Institution der deutschen Filmgeschichtsbewahrung wird Lamprecht, bis vor Kurzem ein Vergessener des deutschen Kinos, in großem Stil wiederentdeckt. Gleich drei Bücher zu seinem Werk – jeweils eines dem Archivar, dem Filmhistoriker und dem Filmemacher Lamprecht gewidmet – sind dieses Jahr bei edition text + kritik erschienen, das Zeughauskino zeigte kürzlich eine kleine Werkschau. In der Volksbühne präsentiert die Kinemathek nun zwei weitere Stummfilme: die Sozialdramen „Menschen untereinander“ (1926) und „Unter der Laterne“ (1928). Neue Zelluloidkopien wurden leider nicht angefertigt, die Vorführungen gehen rein digital über die Bühne; man darf sich fragen, ob das mit der von Lamprecht mitentworfenen Idee von Filmgeschichte als materieller Spur der Vergangenheit kompatibel ist. Dafür verspricht das musikalische Begleitprogramm Außergewöhnliches: mit ensemble mosaik und shortfilmlivemusik werden zwei ambitionierte Instrumentalistengruppen die Vorführungen live vertonen.

Beide Projekte arbeiten vorwiegend improvisatorisch und experimentell – was einen interessanten Kontrast zu den Filmen ergeben sollte: Wiederentdeckt wird mit Lamprecht nämlich kein vergessener Meisterregisseur, erst recht kein Avantgardist – sondern ein wendiger Handwerker, der über vier Jahrzehnte und mehrere politische Systeme hinweg mitten im populären Unterhaltungskino arbeitete und dessen Filmen sich die Verwerfungen ihrer Zeit recht unmittelbar aufprägten: So fällt es zum Beispiel nicht schwer, in dem dieses Jahr auf der Berlinale gezeigten „Einmal eine große Dame sein“ von 1934 – vorderhand eine harmlose Boulevardkomödie – Versatzstücke nationalsozialistischer Ideologie ausfindig zu machen.

Rückblickend kaum zu glauben, dass „Menschen untereinander“ und „Unter der Laterne“ nur wenige Jahre vorher entstanden sind: Filme, die zwar unverfroren melodramatisch, aber mit neugierigem und unverstelltem Blick Episoden aus dem kleinbürgerlichen Berliner Leben erzählen. „Menschen untereinander“, ein episodisch aufgebauter Querschnittsfilm, mag im Detail etwas schwerfällig angelegt sein, dennoch fragt man sich, warum das Kino sich heute so etwas nicht mehr zutraut: nicht ein Individuum oder eine Familie zum Ausgangspunkt der Erzählung zu nehmen, sondern ein Mietshaus, also die soziale Organisation selbst. Bis heute wohnen (nicht nur) in Berlin die meisten Menschen untereinander. Was das für die Gemeinschaft bedeutet, kann Lamprechts Film nicht unbedingt schlüssig erklären; doch immerhin interessiert der Film sich für die Nachbarn.

Visuell und erzählerisch dynamischer ist „Unter der Laterne“: Lamprecht entwirft die Geschichte eines jungen Mädchens, das von einer feisten, gutbürgerlichen Männlichkeit, die vor allem ihr unnachgiebiger Vater verkörpert, flieht, von ihrem selbstgerechten, jungenhaften Liebhaber allerdings ebenfalls enttäuscht wird, das dann erst in einem zwielichtigen Varieté und schließlich in der Prostitution landet. Ein rasantes, spekulatives Sittendrama, im Detail von angemessener Schmierigkeit, gleichzeitig ein offenherziges Porträt jener schmutzigen Unterseite der damaligen Reichshauptstadt, von der bald darauf das geleckt-verlogene Nazikino nichts mehr wissen will.

■  Die lange Gerhard-Lamprecht-Nacht: 30. 6., Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, ab 18 Uhr