Kleine Leben in der großen Stadt

Mit „Lucy“ (Forum) hat Henner Winckler einen Berlin-Film gedreht – kein Stadtporträt, sondern eine Milieustudie, die Platzangst macht. Darin seziert er den von verstockter Hilflosigkeit geprägten Alltag einer jungen Kleinfamilie

An dieser Geschichte ist nichts ungewöhnlich: Maggy (Kim Schnitzer), eine 18 Jahre alte allein erziehende Mutter, verliebt sich in Gordon (Gordon Schmidt), einen nur ein wenig älteren Mann mit zwei Einkommensquellen, aber wenig regelmäßigen Arbeitszeiten. Sie lebt bei ihrer Mutter (Feo Aladag), die nicht begeistert ist, als plötzlich der unbekannte Mann am Frühstückstisch sitzt. Es kommt zum Streit. Die Tochter zieht mit ihrem Baby, Lucy, zu dem Mann. Das Glück der Kleinfamilie ist von kurzer Dauer. Der Mann ist, ohne bösen Willen eigentlich, nicht da, wenn man ihn braucht, das Baby verschwindet nicht, auch wenn man viel lieber anderes täte, als sich zu kümmern.

Henner Wincklers Film „Lucy“ lässt das alles geschehen, ohne dramaturgische Verrenkungen. Sein Film will einfach nur das Gewöhnlichste von der Welt erzählen. Er ist unspektakulär, der Plot ist vorhersehbar, und er soll es sein. Denn auf die Genauigkeit kommt es an, eine Genauigkeit, die etwa in der verstockten Hilflosigkeit liegt, mit der Mike (Ninjo Borth), der nach einem heftigen Streit zu Beginn des Films wieder auftauchende Vater des Kindes, in Türen und Gängen steht und nicht weiß, was er will. Wincklers Blick sucht die Unbeholfenheit der Körper, denen anzusehen ist, wie sehr sich alle Beteiligten überfordert fühlen. Seinen jungen Darstellern, die keine Schauspielprofis sind, gewinnt der nüchterne Blick dieses Films Wahrheiten des Ausdrucks – und mehr noch der Ausdruckslosigkeit – ab, die bei Profis hinter der Kontrolle, die sie über sich haben, leicht verschwinden.

Nach seinem Debüt „Klassenfahrt“ (2002), das einer Schulklasse nach Polen folgte, kehrt der Regisseur nun, mit einigen Figuren aus dem Debüt, zurück in die Hauptstadt. „Lucy“ ist ein Berlin-Film, aber beileibe nicht als groß angelegtes, repräsentatives Porträt, sondern als Entwurf einer kleinen Welt zwischen Alexanderplatz, Landsberger Allee und Matrix-Disco unter der U-Bahn-Brücke in Friedrichshain. Das Berlin dieses Films ist ein mit großer Genauigkeit der Milieudetails geschilderter Ort. Und dass man nicht viel sieht von der Stadt, heißt eben nicht, dass sie – wie in den „Elementarteilchen“ – bloße Behauptung bliebe. Es gibt nur mal einen Blick vom Balkon, die Straßenbahn, den Brunnen am Alexanderplatz. Weil aber alles stimmt in der Mikrobeschreibung, ist es spürbar, unverkennbar Berlin. Als Stadt, in der man Platzangst bekommen kann. Winckler macht die Räume eng, drinnen wie draußen. So eng, wie das Leben sich anfühlt für die fast noch Jugendlichen mit ihrer Verantwortung für das Baby. Oft sind die Ausschnitte so gewählt, dass man erst nicht weiß, ob noch jemand im Raum ist, neben der Person, die man sieht. Maggy ist allein auch unter Menschen. Einsamkeit ist im Kino auch eine Frage der Kadrage.

Winckler verzichtet oft auf establishing shots, jene Einstellungen also, die den Raum erst einmal definieren, bevor dann die nächsten Einstellungen auf Einzelnes, Gesichter, Körper, Dialoge, Verhältnisse der Figuren zueinander, eingehen. Das Leben dieser Jugendlichen in der Kleinfamilie, in die sie geraten sind, ist ein Leben ohne establishing shot. Sie finden sich in Lagen, die zu handhaben, in denen halbwegs souverän sich zu bewegen ihnen die Erfahrung fehlt. Sie wissen nicht, was tun. Die Erwachsenen sind, arriviert oder nicht, keine Hilfe. Es gibt auch keine Moral aus dieser Geschichte, die keine Tragödie ist, ja, geradezu das Gegenteil eines Melodrams. Der Film blickt, im Rahmen der engen Grenzen, die er sich setzt, intensiv nur nach innen. Am Ende geht er sehr konsequent einfach so aus. EKKEHARD KNÖRER

„Lucy“. Regie: Henner Winckler, D, 92 Min. 14. 2., 19 Uhr Delphi; 15. 2., 17.30 Uhr Arsenal; 16. 2., 10 Uhr CinemaxX 3