Der Menschenfreund

Er hat die Würde des Amtes nicht mit der Würde der eigenen Person verwechselt„Blaulicht liebt er ja überhaupt nicht“, sagte einmal ein Chauffeur, „lieber steht er im Stau“

VON BETTINA GAUS

Er hat sich so verabschiedet, wie er gelebt hat: leise. Erst wenige Tage ist es her, dass Johannes Rau die Teilnahme an den Empfängen absagen musste, die für seinen 75. Geburtstag geplant waren. Es ging ihm bereits zu schlecht. Fast bis zur letzten Minute hat er mit den Absagen gewartet, und wer ihn kannte, ahnt, wie leid es ihm getan haben muss, bei den Festen nicht dabei sein zu dürfen. Nicht deshalb, weil er es besonders geschätzt hätte, wenn Aufsehen um seine Person gemacht wurde. Im Gegenteil – für einen Spitzenpolitiker war Johannes Rau bemerkenswert uneitel. Sondern, weil seine Lust auf die Begegnung mit anderen Menschen unersättlich war.

Das bedeutet nicht, dass es leicht gewesen wäre, ihm nahe zu kommen. Ähnlich wie Willy Brandt ist auch ihm nachgesagt worden, eine gewisse Distanz werde umso deutlicher spürbar, je besser man sich kenne. Johannes Rau selbst hat gesagt, dass er nur wenige enge Freunde habe, und die meisten stammten aus jungen Jahren.

Aber der Abstand, auf den er hielt und auf den er andere hielt, gründete nicht in Misstrauen oder gar Abneigung anderen gegenüber. Das, was andere Politiker so oft von sich behaupten und was bei näherem Hinsehen fast niemals mehr als eine Pose ist – bei Johannes Rau entsprang es einer tiefen Überzeugung: Er hat die Würde des Amtes nicht mit der Würde der eigenen Person verwechselt. Und er meinte nicht, dass er nur deshalb Anspruch auf Privilegien habe, weil er eben eine bestimmte Position innehatte. Da mussten schon noch sachliche Gründe hinzukommen.

Denjenigen, die für einen reibungslosen Ablauf des Terminplans verantwortlich war, hat er ihre Aufgabe damit nicht unbedingt erleichtert. „Blaulicht liebt er ja überhaupt nicht“, sagte einmal ein Chauffeur des sächsischen Innenministeriums, der Rau häufiger gefahren hat, und in seinem Ton lag eine Mischung aus Anerkennung und Verzweiflung. „Lieber steht er im Stau.“ Nachmittags um vier in Leipzig: da wartet man schon einmal vor einer Ampel. Aber seltsam – dennoch ist es dem Bundespräsidenten fast immer gelungen, seine Verabredungen pünktlich einzuhalten. Offenbar können selbst wichtige Leute ihre Planung so gestalten, dass sie den Verkehrsfluss berücksichtigt.

Wenn sie wollen. Johannes Rau hat stets Wert auf solche – scheinbaren – Kleinigkeiten gelegt. So wie er Wert darauf legte, dass sein Gegenüber ihm auf Augenhöhe begegnen konnte. Egal, ob man sich gerade erst vorgestellt worden war oder ob man sich schon seit Jahren kannte. Legendär sind die handschriftlichen Geburtstagsbriefe, für die Rau sich täglich Zeit nahm. Die Liste der Adressaten war lang und keineswegs exklusiv. Das hat deren Freude nicht geschmälert.

Wie kaum ein anderer hat Johannes Rau es vermocht, in der persönlichen Begegnung Menschen für sich einzunehmen. Natürlich wusste er, wie er Wirkung erzielen konnte. Wenn ihm die einzelnen Teilnehmer einer größeren Runde vorgestellt wurden, dann erinnerte er sich stets an irgendein Detail: an den Herkunftsort, an den Beruf, an den Familienstand. Da fragte er nach, interessierte sich. Und das Gegenüber fühlte sich ernst genommen. Oder er rief persönlich bei jemandem an, der einen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben hatte. „Johannes Rau hier. Sie hatten mir geschrieben.“ Wenn er erzählte, wie verblüfft die Angerufenen reagierten, dann kicherte er in sich hinein.

Wären all das bloße Taschenspielertricks gewesen – es hätte sich herumgesprochen, und es hätte bald nur noch abstoßend gewirkt. Aber es waren eben keine Tricks, sondern Ausdruck einer demokratischen Grundhaltung. Johannes Rau glaubte an die Gleichheit der Menschen, und ihm lag die Zivilgesellschaft am Herzen.

Ein Heiliger war er deshalb noch lange nicht, auch wenn der bekennende Protestant jahrzehntelang halb spöttisch, halb liebevoll „Bruder Johannes“ genannt wurde. Über zwei Jahrzehnte regierte der SPD-Politiker als Ministerpräsident das bevölkerungsreichste Bundesland Nordhein-Westfalen. Filz, Affären, Fehlentscheidungen: Er blieb davon nicht unberührt, und gelegentlich hat er sich auch in Dinge verstrickt oder verstricken lassen, denen er sich besser entzogen hätte.

Einige Vorwürfe haben ihn gekränkt. Er fand sie ungerecht. Aber vielleicht noch mehr gekränkt hat ihn das Bild, das Wohlmeinende manchmal von dem passionierten Skatspieler und Witzeerzähler zeichneten: „Als ob ich 20 Jahre mit pastoralen Anekdötchen ein 18-Millionen-Volk regiert hätte! Denen, die so etwas schreiben, wünscht man einen Tag im Amt des Ministerpräsidenten.“

Insgesamt ist Johannes Rau beinahe 50 Jahre lang politisch tätig gewesen. Als er am 1. Juli 2004 sein Amt als Bundespräsident an Horst Köhler übergab, trat der letzte Politiker ab, der an führender Stelle die Bundesrepublik fast seit ihren Gründungsjahren mitgestaltet hatte. Er wäre wohl gerne noch eine weitere Legislaturperiode geblieben. Die Mehrheitsverhältnisse ließen eine weitere Kandidatur nicht zu.

Superlative sind immer heikel. Und dennoch soll es hier einmal hingeschrieben werden: Johannes Rau war der beste Bundespräsident, den Deutschland bisher hatte. Gemerkt haben es während seiner Amtszeit allerdings beinahe nur diejenigen, deren Anliegen er sich zu Eigen machte. Das, immerhin, waren nicht wenige. Einige seiner Amtsvorgänger haben mit einer einzigen Rede ihre Fußnote in der Geschichte geschrieben: Roman Herzog wünschte, dass ein „Ruck“ durch Deutschland gehen möge. Richard von Weizsäcker nannte das Ende des Zweiten Weltkrieges eine Befreiung.

Eine solch spektakuläre Rede hat Rau nie gehalten. Das nachhaltige Interesse der deutschen Öffentlichkeit konnte er nicht einmal am 16. Februar 2000 wecken, als er in der israelischen Knesset um Vergebung für die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus bat. Seine anderen Ansprachen eigneten sich ohnehin nicht für knappe, griffige Schlagzeilen. Sie bedeuteten vor allem für diejenigen eine Ermutigung, die oft glauben, ziemlich einsam und ohne größere öffentliche Unterstützung für ihr Anliegen kämpfen zu müssen.

Zu den Risiken von Gentechnik und Globalisierung bezog Rau Stellung und zur Zukunft des deutsch-amerikanischen Verhältnisses nach dem Irakkrieg. Und zum schwierigen Thema der Ausländerintegration. „Ansprechpartner für alle Menschen, die ohne einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten“, wollte er sein. Sein Respekt vor anderen Menschen orientierte sich nicht an der Frage der Staatsbürgerschaft.

Laut ist Johannes Rau während seiner Amtszeit als Bundespräsident nur zweimal geworden: einmal, als er seine Unterschrift unter das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das unter umstrittenen Umständen zustande gekommen war, mit scharfen Worten begleitete. Sie machten deutlich, was Rau von der gelegentlich leichtfertigen Art und Weise hielt, mit der Parteien heute mit den demokratischen Institutionen des Staates umgehen: nichts.

Ein weiteres Mal wurde er scharf in seiner letzten „Berliner Rede“. Da warf er den deutschen Eliten vor, „alle Maßstäbe verloren“ zu haben, und forderte eine Rückkehr zu größerem Verantwortungsbewusstsein. Hat jemand zugehört, Konsequenzen gezogen gar? Rau hat es denen, die ihm nicht zuhören wollten, stets leicht gemacht. Selbst wenn er provozierte, aufregend neue Gedanken formulierte und gegen den Strom schwamm: seine Art des Vortrags wirkte stets beruhigend – und ein kleines bisschen langweilig. Die Frage ist nicht zu beantworten, aber reizvoll: Hätte er in einer Gesellschaft, in der das Medium Fernsehen noch nicht erfunden war, größere Wirkung erzielen können?

Eine Ansprache hat er gehalten, die für die Öffentlichkeit gar nicht wichtig gewesen ist. Sondern nur für meine Familie, für unsere Freunde und für mich. Als mein Vater im Mai 2004 starb, da hielt Johannes Rau eine der Trauerreden des Gedenkgottesdienstes. Als Freund des Verstorbenen, nicht als Staatsoberhaupt. Für uns hat das damals Trost bedeutet. Für ihn war es, wie wir wussten, eine Selbstverständlichkeit.

Er hinterlässt seine Ehefrau Christina, mit der er seit 1982 verheiratet war, und drei Kinder.