MUSIKDISKURS & POPTHEORIE VON DANIEL BAX
: Auf der Suche nach dem Fortschritt

Die Schweiz scheint ein guter Ort zu sein, um sich Gedanken über Entwicklungen im globalen Pop machen. An der Schnittstelle europäischer Kulturräume und von mehreren Sprachgrenzen durchzogen, fällt es hier schwerer, den eigenen Standpunkt zu verabsolutieren und von einer vermeintlich höheren Warte aus zu urteilen. Das könnte der Grund sein, warum einige der spannendsten Impulse für den theoretischen Musikdiskurs in den letzten Jahren aus der Schweiz gekommen sind.

Seit zehn Jahren bündelt das Online-Magazin Norient.com, dessen Homebase in Bern zu finden ist, Reportagen, Interviews und Essays zu popkulturellen Phänomenen aus aller Welt, und bietet Musikwissenschaftlern, Popjournalisten, Künstlern und Bloggern ein Forum. Norient ist damit zu dem geworden, was die Musikzeitschrift Spex in Deutschland zeitweise einmal war: ein Thinktank, der über den globalen Mainstream der Minderheiten reflektiert. Die Aktivitäten der Macher umfassen Radioshows, audiovisuelle Vorträge und DJ-Sets. In Bern haben sie außerdem das jährliche Norient-Musikfilm-Festival ins Leben gerufen.

Der Reader „Out of the Absurdity of Life“ presst dieses wilde Denken nun zwischen zwei Buchdeckel. Die Autoren bieten einen Einblick in die globale Bass-Culture und die Avantgarden des Südens und richten ihren Blick vor allem auf die Aspekte Parodie, Protest und Hyper-Pop. Manchmal geht es ihnen vorwiegend um ästhetische Fragen – wie im Interview mit DJ Marcelle aus Amsterdam, die in die Fußstapfen der BBC-Radiolegende John Peel tritt. Manchmal geht es um gesellschaftliche Prozesse, so im Kapitel zu „Underground-Rock und Demokratisierung in Indonesien“. Und manchmal um Vermarktungslogik, etwa im Interview mit Jay Rutledge, der in München auf seinem Label Outhere Records junge HipHop-Bands aus Afrika protegiert.

Immer aber nehmen die Autoren die These des britischen Popautors Simon Reynolds ernst, der in seinem Buch „Retromania“ schrieb, dass musikalischer Fortschritt bis auf Weiteres nur aus Ländern der bisherigen Peripherie – also aus Afrika, Lateinamerika und Asien – zu erwarten sei. Der Musikwissenschaftler Thomas Burkhalter hat dafür den Begriff „Weltmusik 2.0.“ geprägt. Vorwerfen kann man den Autoren, die er in dem Reader versammelt hat, höchstens, dass sie sich mehr für die besonders schrillen Phänomene dieser „Weltmusik 2.0.“ interessieren und weniger für die zum Massenphänomen gewordene Normalität. Dabei hat es gerade auch hier tektonische Verschiebungen gegeben, wie man am Beispiel des koreanischen Rappers Psy sehen konnte. Ist diese Faszination für das Ausgefallene und Randständige nicht auch schon eine Form des Exotismus?

Das Buch ist freilich auch eine Collage, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, und trotz poppigem Layout immer noch gut lesbar bleibt. Illustriert werden die Kapitel mit Fotos von bunten Voodooshop-Partys in São Paulo, von Underground-Musikern in Beirut, der queeren „Sissi Bounce“-Rap-Szene in New Orleans oder Jurte-Musik in der Mongolei, mit Konzertpostern und ausgefallenen CD-Covern, ein Glossar listet Fachbegriffe von A wie Afrofuturismus bis W wie „Weltmusik 2.0.“.

Das ist fröhliche Wissenschaft, trotz aller universitären Anbindung. Dass die meisten Autoren studierte Musikologen sind, tut dem Vergnügen keinen Abbruch, sondern sorgt für fachkundige Einordnung der Phänomene. So erfährt man, wie aus Dabke, einem Reihentanz aus Syrien, der New Wave Dabke wurde, aus Cumbia in Kolumbien die Cumbia Digital und aus Highlife in Ghana der Hiplife.

Aber wie lange lässt sich der Fortschritt noch kartographieren? Das fragt sich Julio Mendivil mit dem Berliner Musikethnologen Martin Greve, der seinem Fach einmal dessen „notwendiges Verschwinden“ prophezeite, ohne eine Antwort zu finden.

Löblich ist, dass der Blick der Autoren auch die Lage vor der Haustür erfasst und die Straßenproteste gegen das Clubsterben in Bern oder die Neue Volksmusik in der Schweiz Beachtung finden. Denn die Schweiz kann, wie gesagt, pars pro toto für transkulturelle Prozesse stehen: die Welt im Kleinformat.

■ Theresa Bayer, Thomas Burkhalter (Hrsg.): „Out of the Absurdity of Life. Globale Musik“. Norient 012