Kranker oder Simulant?

Niedergelassene Ärzte treffen sich heute in Berlin zur Großdemo. Doch so dramatisch wie behauptet ist ihre Lage nicht

„Wer statt 1.000 bloß 400 Patienten findet, kann doch in Gemeinschaftspraxen gehen“

VON SABINE AM ORDE
UND ULRIKE WINKELMANN

Ärzte stehen neuerdings mit Särgen, Kreuzen und Transparenten auf der Straße statt mit Rezeptblock und Kuli in der Praxis. 5.000 niedergelassene Mediziner erwartet der Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Maximilian Zollner, heute zur bundesweiten Demonstration in Berlin. Der NAV-Virchow-Bund ist eine von insgesamt 40 Ärzteorganisationen, die zum Protest aufrufen.

Die Mediziner zeichnen ein dramatisches Bild ihrer Lage. Von sinkenden Einkommen und steigenden Arbeitszeiten ist die Rede. 30 Prozent der ärztlichen Leistungen, so Zollner, würden heute von den Krankenkassen nicht mehr bezahlt. Das Gesundheitssystem werde finanziell ausgehungert. 20 bis 30 Prozent der Arztpraxen ständen bereits vor dem finanziellen Aus. „Die Versorgung der Patienten ist in Gefahr“, kritisierte der Ärztelobbyist. Auf dem „platten Land“ sei das bereits der Fall. Deshalb forderten die Ärzte eine „leistungsgerechte Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen“.

Doch wie schlecht geht es den Ärzten wirklich? Hinter ihren alarmierenden Rufen verbirgt sich ein durchschnittliches Bruttoeinkommen je von 85.000 Euro pro Arzt im Westteil des Landes, im Ostteil sind es im Schnitt 78.000 Euro. Diese Zahlen stammen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung – und die muss es wissen. Denn die KBV ist die einzige Institution, die den Überblick über das Einkommen der hiesigen Mediziner hat, und sie gibt ihre Daten nur ungern und zögerlich heraus. Verbreitet werden sie dieser Tage deshalb von den Krankenkassen und vom Gesundheitsministerium.

Zu den benannten Einkommen aus der gesetzlichen Krankenversicherung müssen noch die Zahlungen für die lukrative Behandlung von Privatpatienten gerechnet werden. Im Osten ist das nicht so viel, doch im Westen machen sie je nach Fachgebiet zwischen 16 und 33 Prozent der Einnahmen eines niedergelassenen Mediziners aus. Am besten stehen sich inklusive Privatliquidation derzeit mit im Schnitt 137.000 Euro die Internisten im Westen, am unteren Ende rangieren mit 63.000 brutto die Hautärzte im Osten. Insgesamt, so betont das Ministerium, haben die Einkommen der Ärzte in den vergangenen Jahren leicht zugenommen und konnten dabei mit der Inflation Schritt halten.

Doch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung verteilen sich auf immer mehr Ärzte – und so bleibt, obwohl die Patienten häufiger zum Arzt gehen, weniger für den einzelnen Mediziner. Seit 1992 hat die Anzahl der niedergelassenen Ärzte um 28 Prozent zugenommen. Besonders viele Mediziner siedeln in den Stadtstaaten, dünner wird es in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Von „Ärztemangel“ kann angesichts der wachsenden Begeisterung junger Leute fürs Medizinstudium und einer der weltweit höchsten Ärztedichten keine Rede sein.

Auch die Behauptung, die Ärzte müssten ihre Arzthelferinnen entlassen, lässt sich statistisch nicht belegen: Die Zahl der Arzthelferinnen stieg 1999 bis 2003 laut Bundesagentur für Arbeit von 410.000 auf 441.000. Auch nach der Gesundheitsreform 2003, als die Fachärzte wegen der Honorarumverteilung zugunsten der Allgemeinmediziner aufjaulten, meldeten sich bis 2004 zwar 4.000 Arzthelferinnen neu arbeitslos – doch wurden 5.000 neu angeheuert.

So gibt es auch viele niedergelassene Ärzte, die die Protestmärsche ihrer Standeskollegen und -vertreter unangemessen finden. „Die Niedergelassenen stehen nicht auf der Schattenseite der Wirtschaft“, sagt etwa Trautgott Heil, Allgemeinarzt bei Marburg, der auch schon an vielen Beratungstischen mit der Politik saß. Die Proteste seien „ein Überforderungssyndrom“, weil die Ministerin Ulla Schmidt (SPD) den Ärzten viele Reformen auf einmal zugemutet habe.

Besondere Behandlungsprogramme für chronisch Kranke, die neue Chipkarte, die Förderung der Versorgungszentren – das alles seien Umstellungen, die Zeit zur Verarbeitung bräuchten. „Das ganze Geklage übers Geld“ jedoch sei unberechtigt. „Wer statt der durchschnittlichen 1.000 bloß 300 oder 400 Patienten findet, kann sich doch in Gemeinschaftspraxen zusammenschließen“, sagt Heil.

Im Chor der Ärzteorganisationen finden sich solche Stimmen selbstverständlich nicht. Denn bei NAV-Virchow-Bund wie KBV wird nur in Sprecherposten gewählt, wer mehr Geld verlangt und jegliche Beschränkung durch die Politik ablehnt. Ihr Druckpotenzial finden sie vor allem in den Arztpraxen – Patienten sind gläubige Menschen.