„Unsere Umsätze sinken – bei steigenden Kosten“

Ulrich Fegeler, Westberliner Kinderarzt, über seine 60-Stunden-Woche, entnervte Kollegen und das Punktesystem in der Honorarabrechnung

taz: Herr Fegeler, warum bleibt Ihre Kinderarztpraxis heute zu?

Ulrich Fegeler: Neben der überbordenden Bürokratie ist ein Grund die Einkommensentwicklung. Unsere Umsätze bleiben gleich oder sinken sogar, und das bei ständig steigenden Kosten – für Benzin, Strom und Gas, Miete und natürlich auch für unser Personal. Bis 1998 war das anders. Da ist der Umsatz langsam, aber kontinuierlich gestiegen, zwischen 1 und 2 Prozent pro Jahr. Das hat die Mehrkosten in etwa ausgeglichen. Danach war der Anstieg geringer, seit 2003 geht der Umsatz deutlich zurück.

Ich vermute, Sie jammern auf hohem Niveau?

Natürlich verhungere ich nicht. Nach Abzug aller Kosten für die Praxis und vor Steuern bleiben mir etwa 74.000 Euro im Jahr. Das ganz genaue Bruttoeinkommen habe ich nicht parat. Nach dem Abzug der Steuern, der Beiträge für die Kranken- und Rentenversicherung sowie den Zahlungen für meine Praxiskredite und die Berufsunfähigkeitsversicherung bleiben etwa 2.000 Euro übrig. Dazu kommen noch 200 Euro für die Privatversicherten, davon haben wir nicht viele. Das macht 2.200 Euro im Monat. Vor anderthalb Jahren waren es noch 500 Euro mehr. Allerdings stehen die meisten anderen Kinderärzte in Berlin noch schlechter da. Dafür arbeite ich 60 Stunden in der Woche, an jedem zweiten Samstag habe ich Notdienst in der Praxis und das ganze Wochenende bin ich für meine Patienten telefonisch erreichbar. Unseren Angestellten haben wir das Weihnachtsgeld gestrichen, um die Stellen zu erhalten.

In vielen Branchen wird heute weniger verdient als vor einigen Jahren. Warum sollten wir ausgerechnet mit den Ärzten Mitleid haben?

Haben Sie schon mal gehört, das Parlamentarier weniger verdienen oder Anwälte oder Lehrer? Warum sollen also ausgerechnet die Ärzte, einer der Berufe mit den längsten Ausbildungs- und Arbeitszeiten, Zugeständnisse machen? Außerdem arbeiten wir heute viel mehr. Seit 1998 haben wir einen Patientenanstieg vom 25 Prozent, zu zweit betreuen wir im Quartal 2.200 Patienten.

Wenn Sie mehr arbeiten, warum ist dann Ihr Einkommen zurückgegangen?

Die gesetzliche Krankenversicherung hat heute eben weniger Geld. Das liegt an der hohen Arbeitslosigkeit. Die Leute zahlen weniger Beiträge, auch weil sie häufig in so genannte Billigkassen wechseln. Sie werden aber nicht seltener krank. Es gibt deshalb weniger Geld im System. Unser Einkommen wird nach einer Gebührenordnung berechnet, dem EBM …

dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab.

Genau. Er legt für alle ärztlichen Leistungen, die abgerechnet werden können, einen Punktwert fest. Ich erarbeite also eine gewisse Punktmenge pro Quartal. An dessen Ende wird die Gesamtpunktmenge aller Ärzte addiert und mit dem vorhandenen Geld verrechnet. Erst dann wird klar, wie viel ein Punkt wert ist. In Berlin haben wir dazu noch ein Individualbudget, aber das ist von KV zu KV unterschiedlich.

Was ist das Prinzip dieses Budgets, das für den Bereich der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung gilt?

Aus dem Durchschnitt von vier Quartalen der Jahre 2002 und 2003 wurde für jede Praxis ein Punktbudget errechnet und dann eingefroren. Wenn wir weniger Punkte erarbeiten, bekommen wir weniger Geld. Wenn wir aber mehr Punkte erarbeiten, erhöht sich unser Einkommen oberhalb dieser Grenze nicht.

Ist das der Grund, warum manche Ärzte gegen Quartalsende ihren Patienten teure Leistungen wie etwa Röntgenaufnahmen vorenthalten oder die Praxis gleich für ein paar Tage schließen?

Ja. Diese Ärzte sagen: Umsonst arbeiten wir nicht. Ich halte das bei uns Kinder- und Jugendärzten für ethisch sehr bedenklich.

Ein großes Problem scheint für Sie die Gebührenordnung zu sein. Die wird aber nicht von der Politik, sondern von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Krankenkassen gemeinsam festgelegt. Protestieren Sie und Ihre Kollegen nicht gegen den Falschen?

Nein, das Problem ist nicht der EBM. Der sorgt dafür, dass das vorhandene Geld einigermaßen gerecht verteilt wird. Das Problem ist, dass es insgesamt zu wenig Geld gibt für eine medizinische Arbeit, die Ärzte und Patienten zufrieden stellt. In Ländern wie Berlin ist das besonders schlimm, weil hier auch die Einnahmen der Kassen besonders niedrig sind. In Baden-Württemberg zum Beispiel würde ich für meinen Punktwert genau das Doppelte bekommen, das ist doch ungerecht. Das alles kann nur die Politik ändern. INTERVIEW: SABINE AM ORDE