Animalische Qualitäten

Das Auge mit der Kamera erregen, die Konstellationen zwischen Frau und Mann neu mischen: Das Arsenal zeigt eine Retrospektive der Filmemacherin und Videokünstlerin Shelly Silver, bei der das Kino eine Wunschmaschine ist

„Desire, Escape, Wish Fulfillment“ ist ein Begehrensprojekt, das merkt man schon dem Titel an. Jetzt ist die New Yorker Künstlerin Shelly Silver in Berlin zu Gast, um im Rahmen eines Workshops an der Universität der Künste mit Studierenden eine Website zu diesem Thema zu erarbeiten, als Vorstufe eines neuen Films. Parallel zeigt das Arsenal nun eine umfangreiche Shelly-Silver-Retrospektive, die um einige von ihr ausgewählte Filme bereichert wird, darunter auch das Debüt der damals achtzehnjährigen Chantal Akerman, die burleske Anti-Haushalts-Revolte „Saute ma ville“ (1968).

„Ich kam nach Deutschland zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. Zuerst erschien Berlin wie zwei völlig verschiedene Städte. Dann bemerkte ich, wie schnell sich alles veränderte, und es gab Orte, wo es schwierig war zu erkennen, wo die Mauer gewesen war. In einer Mischung aus Konfusion und Neugierde begann ich zu fragen.“ Mit diesem Kommentar von Shelly Silver beginnt „Former East Former West“ (1994). Die Filmemacherin interviewt Menschen auf der Straße und in Wohnungen, durchaus im Stil von Fernsehreportagen, selbst das hingehaltene Mikrofon ist zu sehen. Es geht um Begriffe wie „Volk“, „Zugehörigkeit“, „Geschichte“, „Ausländer“ oder das Wort „Heimat“ – worauf ein italienischer Migrant entgegnet: „Ich kann nicht wählen, ich kann hier gar nichts, ich koche nur Nudeln“. Und es geht um die gegenseitigen Bilder, die Ost- und Westdeutsche voneinander haben. Was da herauskommt, ist gründlich und abgründig und aus der zeitlichen Distanz inzwischen ein großes, präzises Dokument geworden. Alles wird sichtbar: Befindlichkeiten, Selbstwahrnehmungen und Widersprüche, aber auch Farben, Kleidungsstile und Stoffe – lauter Unterschiede 92/93. Hart zwischen die Statements und Gespräche geschnitten sind Straßenlärm, Panoramablicke, S-Bahn-Fahrten. Das Video endet damit, dass ein Mann sagt, er gehöre zwar hierher, aber er habe eine grundsätzlich andere Auffassung davon, wie dieses Land hier aussehen solle.

Der „Starr-Report“ ist ein staatliches Dokument der Sexgeschichte von Monica und Bill. Nachdem die akribisch aufgezeichneten Zeugenaussagen von Bill Clinton und Monica Lewinsky im Internet veröffentlicht wurden, gab es hierzulande eine Strafanzeige wegen Pornografieverdachts. Shelly Silver lässt in „Small Lies, Big Truth“ (1999) die Zeugnisse der Oval-Office-Begegnungen in verteilten Rollen sprechen und mischt die Konstellationen neu: Älterer Mann und junge Frau – ist doch nicht die einzige Möglichkeit! Dazu sind Super-8-Aufnahmen von hinreißender, im wahrsten Sinne des Wortes animalischer Qualität zu sehen: als Bewegungen und Berührungen von Zootieren.

Inzwischen sind Shelly Silvers Spielflächen die Fiktionen, von denen das Dokumentarische geprägt ist. „Suicide“ (2003), als persönliches Tagebuch einer imaginären Filmemacherin angelegt, betrachtet den öffentlichen Raum, der „für alles Mögliche genutzt wird, nur nicht für soziale Interaktion“. In ihrer neuesten Arbeit „What I'm Looking for“ (2004), die ab 14. 1. auch in der NGBK-Ausstellung „High-Resolution“ gezeigt wird, sucht Shelly Silver wiederum übers Internet nach Personen, die etwas von sich preisgeben möchten. Sie trifft sich mit ihnen und fotografiert sie: hochauflösend, im Nahbereich von Haarstoppeln, Hautfalten, Wunden, Gesten, Bewegungen – und natürlich auch am Sexuellen interessiert.

Die Frauen, die sich gemeldet haben, tauchen nie auf. Es sind die Männer, die von ihr in Szene gesetzt werden wollen. In diesen Sequenzen spielt Überschreitung eine wichtige Rolle: Was bedeutet es, den Leuten ihre Seelen abzusaugen, sie in Gesten sich offenbaren zu lassen? Wunschmaschinen, Begehrensmaschinen, Junggesellinnenmaschinen. Der Blick als Erregung des Auges. Und der Apparat, der das alles seit Muybridge liefert.

Die kleine Geschichte erzählt in „What I'm Looking For“ die große Geschichte: Da ist der japanische Tourist, der bei Ground Zero fotografiert werden möchte, und noch von zwei weiteren Orten spricht – von Kobe, wo das Erdbeben war, und von Hiroschima, wo sein Vater der atomaren Katastrophe 1945 nur knapp entkam. Shelly Silvers sagt über ihre Rolle als Filmemacherin bei dieser Arbeit: „Im Video zeigt und sagt sie nicht alles. Sie erfindet. Aber sie lügt nicht. Sie weiß, besser als die meisten, dass es sich bei alldem um Projektionen handelt.“

MADELEINE BERNSTORFF

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