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AUSSTELLUNG Hippie-Utopie: „The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt

Letztlich ist diese Ausstellung ein Hypertext, der noch sehr viel weiter wuchern könnte

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Am 7. Dezember 1972 nahmen die Astronauten der Apollo-17-Mission auf ihrem Flug zum Mond ein Bild auf, das heute zu den am häufigsten reproduzierten Fotos aller Zeiten gehört: die blau strahlende Erde aus Weltall betrachtet. Es wurde unter dem Namen „The Blue Marble“ bekannt.

Im selben Jahr veröffentlichte der Club of Rome seinen epochemachenden Bericht „The Limits to Growth“, der – auf der Basis einer Computersimulation – ein düsteres Bild der Zukunft zeichnete: Sollte die Menschheit nicht ihren Rohstoffverbrauch einschränken, wären in etwa hundert Jahren die Grenzen des Wachstums erreicht. Der Bericht gilt als Ausgangspunkt der ökologischen Bewegung, „The Blue Marble“ wurde ihre Ikone.

Ein Paradigmenwechsel

Ein Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin nimmt dieses Bild zum Ausgangspunkt, um einen Blick auf einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Zeit des Kalten Krieges zu werfen. Für Diedrich Diederichsen und Anselm Franke, Kuratoren der Ausstellung „The Whole World“, löste das „Blue Marble“-Foto die Aufnahmen von dem Atombombenpilz als diskursprägendes Weltbild ab. Bilder von den Crossroads-Tests im Bikini-Atoll zeigte sowohl das Potenzial vollkommener globaler Verwüstung wie die militärisch-technische Übermacht der Vereinigten Staaten. Das „Blue Marble“-Bild erzählte eine andere Geschichte.

Die Berliner Ausstellung handelt von den ethischen, kulturellen, sozialen und politischen Schlussfolgerungen, die das Weltraumbild vom blauen Planeten den Zeitgenossen nahelegte, und davon, wie diese Ideen in der Versuchsküche der kalifornischen Gegenkultur der 70er Jahre umgesetzt wurden. Tatsächlich waren die Hippies fanatische Early Adopters von neuen Technologien: Verstärker, Tonband, LSD, Video und der ersten Home-Computer.

Steve Brand war einer dieser Hippies, und für die Ausstellung ist er gleichzeitig Subjekt und so etwas wie Säulenheiliger. Schon Mitte der 60er Jahre startete der studierte Biologe eine Kampagne, um die Nasa dazu zu bewegen, Bilder von ihren Weltraummissionen zu veröffentlichen. Als 1970 der erste „Whole Earth Catalog“ auf den Markt kam, prangte auf dem Cover ein Nasa-Bild der Erde, das vom Mond aufgenommen worden war.

Der „Whole Earth Catalog“ war eine Art Manufactum-Katalog der US-Gegenkultur. Er sollte „access to tools“ liefern, die eine neue D-i-Y-Kultur brauchte, um sich von stupiden kapitalistischen Produktionsmethoden abzukoppeln. Dazu gehörten in erster Linie Bücher von einschlägigen Sixtys-Denkern wie Marshall McLuhan und Buckminster Fuller, aber auch über Kybernetik und Pilzzucht, über vegetarisches Kochen und Videoproduktion. Brand verkaufte auch Dinge zur Gestaltung eines autonomen Selbstversorgerlebens anno 1970: Kornmühlen, Synthesizer, und den allseits beliebten Snugli-Babytragesack.

Wiedergeburt als Hacker

Nach dem Ende des „Whole Earth Catalog“ tauchte Brandt Mitte der 80er Jahre als einer der Gründer der Mailbox WELL und Organisator der „Hacker’s Conference“ wieder auf. Mit seinem Bonmont „Information wants to be free“ lieferte er der Open-Source-Bewegung eins ihrer wichtigsten Dogmen. Als frühe Virtual Community war das WELL-Netzwerk ein Nährboden für Cyber-Utopien ebenso wie für die New Economy der 90er Jahre. Ausgangspunkt der kalifornische Start-up-Kultur und ihres publizistisches Organs, der Hightech-Zeitschrift Wired.

Von der Hippie-Subkultur der psychedelischen Sixties zur Cyber- und Internet-Subkultur der 90er Jahre spannt die Ausstellung einen weiten Bogen. In sieben Kapiteln werden einige der Verästelungen der Entwicklung von einem globalen Utopismus zum Aufblühen der „kalifornischen Ideologie“ der späten 90er Jahre mit großer Detailfreude dargestellt. Dazu gehört unter anderem der Space-Age-Jazz eines Sun Ra oder die negativen Utopien der frühen Punk- und New-Wave-Bewegung, die der weltumarmenden Utopie vom blauen Ball Ende der 70er Jahre globale Apokalypse entgegensetzten.

Text- und Bildtafeln, die verschiedene Ausläufer und Endmoränen des globalen Bewusstseins referieren, sind gespickt mit Lesefrüchten und Trouvaillen. Als Exponate dienen bedeutsame Bücher in Originalausgaben und handverlesene Filmsequenzen. Ergänzt wird die Präsentation durch Kunst, die zum Teil aus der thematisierten Zeit stammt, diese zum Teil aus gegenwärtiger Perspektive kommentiert. Einige weitgehend vergessene, aber zum Teil höchst verblüffende Arbeiten werden exhumiert – etwa LSD-Gemälde von Adrian Piper und das niemals realisierte Projekt einer „Delphin Botschaft“ der kalifornischen Künstlergruppe Ant Farm. Letztlich ist diese Ausstellung ein Hypertext, der noch sehr viel weiter wuchern könnte.

■ Bis 1. Juli im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Am 21. und 22. Juni findet eine Symposium zur Ausstellung statt. Ein Katalog erscheint während der Ausstellung