Blaue Flecken beweisen keine Liebe

AUTOBIOGRAFISCHER DOKUMENTARFILM Mit 12 verließ Biene Pilavci ihre zerrüttete, gewalttätige Familie. In „Alleine tanzen“ verarbeitet sie mit Homemovie-Bildern von damals ihre Kindheit

„Alles gelogen“, blafft der Vater. Er behauptet auch, er habe Biene nie geschlagen. „Nicht mal eine Backpfeife“

VON CRISTINA NORD

Die Familie Pilavci sitzt im Wohnzimmer. Vater und Mutter nebeneinander, die Mutter verschränkt die Arme vor dem Oberkörper, sie wirkt abgewandt, fast gepanzert, die Kinder verteilen sich auf der Couchgarnitur. Die Qualität der Aufnahme ist schlecht, manchmal fehlt es an Licht, die Schwenks der Kamera haben etwas Ungeplantes: Es handelt sich um ein Homemovie aus den 80er Jahren. Der Vater möchte, dass die Mutter tanzt. Sie will nicht, er haut ihr auf den Unterarm, mit der flachen Hand, das macht ein klatschendes Geräusch. Sie schlägt zurück und ruft: „Schlag mich nicht.“ Eines der Mädchen mischt sich ein: „Mutter, er schlägt dich nicht, er liebt dich.“ Und: „Die blauen Flecken sind Liebesflecken.“

Wer damals die Videokamera in der Hand hatte, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Vielleicht war es Biene Pilavci, eines der fünf Kinder von Beyhan und Mehmet Pilavci. Während sie bei ihrer Familie lebte, drehte sie viele Homemovies. Heute steht sie am Beginn einer Karriere als Filmemacherin. Mit „Alleine tanzen“, dem autobiografischen Dokumentarfilm, in dem sie das Videomaterial aus den 80er Jahren verwendet, hat sie ihr Studium an der Berliner Filmhochschule DFFB abgeschlossen. Sie unternimmt darin den berührenden Versuch, einer Familiengeschichte beizukommen, für die das Adjektiv „hart“ ein Euphemismus wäre.

Denn die Schläge sind nicht das Einzige. Einmal wirft die Mutter mit einem Messer nach einer der Töchter und trifft sie am Rücken. Den Anblick der Wunde, der freiliegenden Lunge, der Lungenblasen, sagt Biene Pilavci aus dem Off, werde sie nie vergessen. Als sie die Mutter in einer Szene des Films zu diesem Vorfall befragt, wird deutlich, wie wenig die in der Lage ist, darüber auch nur zu reden. Es tue ihr leid, sagt sie. Und dass sie Ali, den Sohn, damals dazu aufgefordert habe, der Polizei gegenüber zu lügen und sich zu bezichtigen, damit sie nicht ins Gefängnis müsse. Der Vater trinkt, irgendwann zeigt ihn die Mutter an, wegen Körperverletzung und Vergewaltigung, eine Haftstrafe und die Abschiebung in die Türkei sind die Folge. Ans Ende des Films hat Biene Pilavci Szenen gerückt, die sie während einer Türkeireise drehte, während der ersten Kontaktaufnahme mit dem Vater nach Jahren. Seine Frau habe ihn verleumdet und sein Leben ruiniert, sagt der alt gewordene Mann in einer dieser Szenen. Und was hat es mit dem Vorwurf der Tochter Samira auf sich, er habe sie vergewaltigt? „Alles gelogen“, blafft der Vater. Er behauptet auch, er habe Biene nie geschlagen. „Nicht einmal eine Backpfeife.“

Die Kamera spielt bei all dem eine große Rolle. Vielleicht lag es an der Videokamera, mit der Biene Pilavci die Homemovies drehte, dass sie die Distanz fand, früh, im Alter von zwölf Jahren, aus der Familie fortzugehen, während ihre Geschwister blieben. Auf eigenen Wunsch kam sie in einem katholischen Mädchenheim unter. Und vermutlich benötigt Biene Pilavci heute die Kamera, um sich der schmerzhaften Familiengeschichte auszusetzen. Die anderen Familienmitglieder aber reagieren darauf, dass sie gefilmt werden, eher genervt und manchmal aggressiv. In einer Schlüsselszene schreit Ali, der Bruder: „Mach aus oder ich schlag sie kaputt.“ Er meint die Kamera. „Ich möchte doch nur, dass wir uns zusammensetzen und miteinander reden“, sagt Biene Pilavci beschwichtigend, aber der Satz verhallt. Es ist ein Dilemma: Der Wunsch, der Film möge die Familienmitglieder zusammenbringen, wird gerade davon torpediert, dass Biene Pilavci filmt. Mit der Kamera vergrößert sie die Distanz, die sie zu überwinden wünscht.

Einmal sagt sie aus dem Off: „Ich suche Trost bei der Kamera und bilde mir ein, sie sagt mir, ich solle mich nicht unterkriegen lassen.“ Und dass sie zugleich Zweifel hat, ob diese distanzierte, kamerabewehrte Position wirklich erstrebenswert sei. Hat ihre Mutter vielleicht sogar recht, wenn sie der Tochter vorwirft, sie bereichere sich am Elend der Familie Pilavci? „Alleine tanzen“ ist couragiert genug, um solche Ambivalenzen zu verhandeln. Man sieht’s und wünscht Biene Pilavci von Herzen, dass sie noch eine Menge Filme dreht.

■ „Alleine tanzen“. Regie: Biene Pilavci. Dokumentarfilm, Deutschland 2012, 98 Min. Filmpremiere am 19. 4. um 21 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz