„Ich dachte, ich träume“

Die Weihnachtsferien vor einem Jahr wurden für die damals 16-jährige Nina Kosian aus Wohltorf bei Hamburg zum Alptraum. Mit ihren Eltern Heidi und Jürgen Kosian und ihren Geschwistern Phil (16) und Shelly (8) wurde sie in einem Strandhotel im thailändischen Khao Lak vom Tsunami überrascht

Ich dachte nur: „Scheiße, das kann doch nicht sein, dass ich hier im Urlaub sterbe!“

Interview: Milena-M. May

taz: Nina, du warst mit deiner Familie in Thailand, als der Tsunami die Küste überflutete. Wie geht es dir ein Jahr nach der Katastrophe? Hast du viel an Khao Lak denken müssen?

Nina Kosian: Eigentlich habe ich den Schock ganz gut überwunden, aber in manchen Situationen ist die Katastrophe schon noch präsent. Zum Beispiel, wenn sich zwei Freundinnen einfach so streiten, dann denke ich: „Das ist doch unwichtig!“ Wenn man so etwas erlebt hat, dann regt man sich nicht mehr über jede Kleinigkeit auf, sondern macht sich Gedanken über die wirklich wichtigen Dinge ...

Zum Beispiel?

Familie. Ich glaube, wir haben die Erinnerungen auch deswegen ganz gut überwunden, weil wir alle füreinander da sind.

Deine Familie leistet aktiv Hilfe in Thailand – möchtest du auch dahin zurückkehren?

Ich möchte nach dem Abi auf jeden Fall etwas Soziales machen. Dazu möchte ich nicht unbedingt nach Thailand, lieber nach Indien. Aber man muss sich den Ereignissen stellen, das ist für einen selber sehr wichtig. Ich denke, ich werde irgendwann mal mit meinen Eltern mitfahren und mir das Hotel und den Strand und so noch mal ansehen.

Wie war es vor der Katastrophe im Dezember in Thailand?

Meine Eltern sind schon eine Woche vor uns geflogen. Am 23. Dezember bin ich mit meinem Bruder Phil und meiner kleinen Schwester Shelly nachgekommen. Zusammen haben wir in Bangkok Weihnachten gefeiert, am 25. sind wir dann nach Khao Lak gefahren. Wir sind erst ziemlich spät im Hotel angekommen und bald schlafen gegangen. Am nächsten Morgen kam die Flutwelle. Deshalb hatte ich noch nicht viel von Thailand mitbekommen. Aber als die Menschen uns nachher geholfen haben, haben wir viel über die Kultur erfahren, mehr als man sonst vielleicht erfahren hätte.

Wie hast du den Tsunami erlebt?

Es war morgens, ungefähr halb zehn. Meine Eltern waren noch beim Frühstück, mein Bruder war im Spa-Bereich, und ich bin mit meiner kleinen Schwester in unser Zimmer gegangen. Eigentlich wollte sie schon zum Strand und baden gehen, aber ich habe gesagt: „Lass uns lieber noch ein Spiel spielen, man soll nicht gleich nach dem Frühstück baden gehen.“ Als die Welle kam, waren wir also in unserem Hotelzimmer.

Plötzlich kam bei der Terrassentür unten Wasser rein. In dem Moment, in dem so etwas passiert, realisierst du das einfach nicht. Dann ist das Glas geplatzt und meine Schwester hat geschrien. Sie hat die ganze Zeit geschrien und ich hab sie angeschnauzt: „Shelly, halt die Klappe!“, und sie instinktiv aufs Bett gesetzt. Dann wurde ich weggerissen und war auf einmal unter dem Bett und kam nicht mehr drunter hervor. Ich dachte nur: „Scheiße, das kann doch nicht sein, dass ich hier im Urlaub sterbe!“

Ich weiß nicht, wie ich da herausgekommen bin, aber ich hab auf einmal Licht gesehen, war draußen und wurde von anderen Hotelgästen auf einen Balkon gezogen. Es war so toll, die Sonne wiederzusehen. Ich war einfach nur total froh. Aber meine Schwester war noch unten. Ich hab rumgeschrien vor Angst. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich sie aufs Bett gesetzt hatte, das ist mir erst später eingefallen. Ich konnte nicht mehr und hab mich in den Schlamm gesetzt und gebetet, das musste ich einfach tun. Es kam mir auch nur ungefähr wie eine Minute vor, dann ging das Wasser zurück.

Ich bin runtergegangen, das Wasser stand noch immer hüfthoch. Shelly habe ich in einer Nische, in der vorher wahrscheinlich mal ein Feuerlöscher war, gefunden. Sie hatte immer noch ein Kissen in der Hand und konnte da nicht weg, weil das Wasser noch zu hoch war. Sie hat mir erzählt, dass sie mit der Matratze rausgeschwemmt wurde und dann in diese Nische gekrabbelt ist.

Oben haben uns die Leute etwas zu trinken gegeben. Die höheren Stockwerke hat die Flutwelle nicht erwischt, aber alles, was unten rumstand, war total zerstört. Ich hatte Bauchschmerzen, weil ich so viel Wasser geschluckt hatte.

Wann war deine ganze Familie wieder zusammen? Wie habt ihr es geschafft, euch zu finden?

Mein Papa hat uns im Hotel gefunden. Er ist dann noch mal los, um meine Mutter und meinen Bruder zu suchen. Shelly und ich sollten oben im Hotel bleiben, weil man noch nicht wusste, ob eine zweite Welle kommt. Mein Vater hat Phil an der Rezeption gefunden, die höher gelegen und etwas abseits vom Hotel war. Meinen Bruder hat es am schlimmsten erwischt: Das Haus, in dem er war, ist über ihm eingestürzt. Phil musste im Krankenhaus genäht werden. Sein Rücken sieht heute noch aus, als wäre er ausgepeitscht worden. Psychisch war er auch sehr angeschlagen. Meine Mutter haben wir erst im Krankenhaus wiedergetroffen. Als wir dort waren, hatten wir gar nichts mehr, aber wir waren zusammen und am Leben.

Wie funktionierte die Kommunikation unmittelbar nach der Katastrophe?

Mein Handy war weggespült worden, aber am nächsten Morgen ist es mir gelungen, über ein geliehenes Handy eine SMS an meine große Schwester Nadine, die in Deutschland geblieben war, zu schicken. Im Krankenhaus haben sie auch ziemlich schnell Telefone eingerichtet, von denen man umsonst telefonieren konnte. Das war schon beachtlich, wie schnell die Thailänder das organisiert haben.

Wir kamen auf Pick-ups am Krankenhaus an. Alles war provisorisch. Zuerst durften nur Schwerverwundete ins Krankenhaus. Wir sind am Nachmittag reingekommen. Der ganze Fußboden war blutrot und es hat gestunken. Es war eklig.

Wann und wie hast du erfahren, was das für eine Welle war?

Ich habe relativ schnell erfahren, dass es ein Tsunami war. Auf den Balkonen im Hotel haben die Leute den Tsunami beobachtet, und einige konnten auch erklären, dass er wahrscheinlich irgendwo durch ein Erbeben ausgelöst wurde. Vom Hotel sind wir deshalb erst mal auf einen Hügel gestiegen, weil vermutet wurde, dass noch eine Welle kommen würde. Die kam dann auch, und wir sind nur noch gelaufen, aber sie hat uns nicht mehr erreicht.

Ich konnte das alles nicht realisieren. Ich dachte, ich träume. In der Nacht vorher war alles schon so komisch. Ich habe die ganze Nacht geweint und wusste nicht, wieso. Ich dachte, vielleicht weil ich Armut noch nie so krass gesehen habe wie in Thailand. Ich habe in dieser Nacht kaum geschlafen. Vielleicht habe ich mich auch schon psychisch auf die Katastrophe vorbereitet.

Wie sah es nach der Katastrophe in Khao Lak aus?

Ich habe noch nie so viele Tote gesehen. Im Pool war kein Wasser mehr, nur Leichen. Die habe ich gesehen, als ich später noch Laken aus dem Hotel für die Verwundeten auf dem Hügel geholt habe. Auf dem Hügel war auch ein Papa mit seinem kleinen Kind. Es war tot. Er hat es neben seine ebenfalls tote Frau gelegt und zugedeckt. Als ich das gesehen habe, habe ich Shelly die Augen zugehalten.

Wie hast du dich gefühlt, als du wieder in Deutschland warst?

Als ich wiederkam, haben mich alle immer wieder nach den Ereignissen gefragt, aber ich wollte für mich oder mit meinem Freund zusammen sein. Als ich dann das erste Mal mit meinen Freundinnen hier wieder in der Bar saß, musste ich heulen, weil ich nicht glauben konnte, dass ich das wirklich überlebt habe. Auch jetzt kommt es mir so vor, als wäre das alles erst drei oder vier Monate her. Dieses Jahr feiere ich mit meiner Familie unsere „Wiedergeburt“.

Wie hast du die Medien erlebt?

In Thailand gar nicht. Da war jeder von den Ereignissen betroffen. Auf dem Flughafen wurden wir hinten rausgeschleust, um den Fotografen zu entgehen. Aber wir haben auch bei so einer Sat.1-„Tsunami-Show“ teilgenommen. Da waren mehrere Familien anwesend, die den Tsunami erlebt haben, und sollten zu Spenden für die Flutopfer aufrufen. Ich habe das nur gemacht, damit die Leute spenden, ich wollte kein Mitleid. In manchen Zeitungen wurde die Sache übertrieben.

Dass die Thailänder uns so sehr geholfen haben, das ist das Wichtigste. Das sollte im Vordergrund stehen. Von diesen Leuten kann man viel lernen. Die Thailänder waren sehr kameradschaftlich. Sie haben wirklich alles für uns getan. So eine Hilfsbereitschaft habe ich noch nie erlebt.

Einige Thailänder haben versucht, die Katastrophe zu vermarkten. Man konnte Videos kaufen, T-Shirts ...

Von diesem Marketing habe ich nichts mitbekommen. Wenn man das Geld für Spenden benutzt, finde ich das okay, aber Leute, die diese T-Shirts kaufen, nur um zu zeigen „Hey, ich war dabei!“ finde ich ... nee, das muss nicht sein.

Wolltest du die Berichterstattung über den Tsunami sehen?

Ich habe den Fernseher nachher gar nicht mehr angeschaltet, weil ich nichts davon sehen und hören wollte. Am Flughafen in Phuket habe ich das erste Mal Bilder von der Welle im Fernsehen gesehen.

Haben die Erlebnisse in Thailand dein Leben nachhaltig verändert?

Ja. Man lebt hinterher anders. Wir leben in einer Welt, die so von den Medien beeinflusst wird, dass wir gar nicht die Chance haben, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken. Ich hatte in Thailand alles Mögliche mit, das mir wichtig war: Fotos, Klamotten, Briefe von meinem Freund, mein Tagebuch, das ich seit der Grundschule führe – diese Sachen sind alle verloren gegangen. Aber das ist alles unwichtig, wenn du weißt, dass deine Familie lebt.