Recht unbefriedigend

„Ich fühle mich unwohl, über das Leben eines Menschen zu entscheiden, wenn ich keine Daten habe“

AUS DEN HAAG MAREKE ADEN

Ein alter Mann steht im Wald, neben ihm ein Soldat, das Gewehr im Anschlag. Damit zielt er auf den Fremden, der hier seinen Jeep kurz abgestellt hat. „Erschieß ihn!“, schreit der Greis den Soldaten an und zeigt auf den Fremden. Der Soldat, ein Serbe, überlegt. Aber dann begnügt er sich damit, das Funkgerät von Lawrence McDonald zu zerstören.

McDonald war 1993 UN-Beobachter in der Gegend um Srebrenica. Seine dunkelblaue Uniform weist ihn heute als Captain der kanadischen Armee aus. Ein kräftiger Mann mit Schnauzer ist McDonald, über Lunten, Schießpulversorten und ihre destruktive Wirkung auf Srebrenica spricht er wie andere über den Aktienindex. Nur bei dieser Episode im Wald, als das wütende Morden des Bürgerkriegs vor ihm, dem unbewaffneten Beobachter, nur knapp Halt machte, gehorchen dem Captain die Stimmbänder nicht so recht und lassen ihn zittrig klingen.

Es ist dieses Zittern, das den Bürgerkrieg für einen Moment aus dem Jahr 1993 in den Saal III des Haager Internationalen Tribunals für das ehemalige Jugoslawien holt. Es kriecht durch die Kopfhörer, die hier alle aufgesetzt haben, damit der maltesische, der dänische und der deutsche Richter, der bosnische Angeklagte, sein britischer Anwalt und die Zeugen aus aller Welt einander verstehen. Einmal hustet die Dolmetscherin hinter der abgedunkelten Scheibe in ihr Mikrofon. Das kracht dann in den Ohren und passt gut zu dem Schützenfeuer, von dem der kanadische UN-Beobachter McDonald gerade berichtet. Aber nahe, wirklich nahe kommen einem die Gefechte nur durch dieses leise Zittern in der Stimme.

Lawrence McDonald ist Zeuge der Verteidigung. Seine Aussage vor dem Tribunal soll dem Angeklagten Naser Orić helfen. Der Bosnier war 25 Jahre alt, als der Bürgerkrieg in seine Heimatstadt Srebrenica kam. In den politischen Wirren hatte er es gar zum Polizeichef gebracht. Unter den 161 Angeklagten – Staatschefs, Generäle, Minister – ist er einer der wenigen, die auch zwölf Jahre nach der Tat noch keine grauen Haare haben. Oric’ Haut ist gebräunt, er trägt einen Zweireiher. Er könnte ein italienischer Geschäftsmann oder ein New Yorker Anzugmodel sein.

Kleinen Gruppen von Kämpfern soll er damals befohlen haben, serbische Dörfer zu plündern und Gefangene zu nehmen, heißt es in der Anklage. Die Verteidigung argumentiert, er habe nicht anders handeln können, wenn er den Menschen in seiner Stadt helfen wollte, zu überleben. Was er getan habe, sei schlicht Mundraub gewesen. 1993 hatten die serbischen Truppen längst angefangen, die Stadt Srebrenica zu beschießen und ihre Bürger auszuhungern. Dass ein serbischer Militär damals den Befehl ausgegeben habe „Gebt den Muslimen nichts zu essen“, ist die zentrale Aussage des Zeugen McDonald.

Aber warum pocht der britische Verteidiger John Jones jetzt darauf, dass der Soldat, den McDonald im Wald bei Srebrenica gesehen hat, eine camouflage-blaue Uniform trug? Weil das hieße, dass der Mann zu den Truppen von Arkan, dem berüchtigten serbischen Paramilitär, gehörte? In Deutschland würde ein Richter einfach nachhaken. Hier im Saal III nicht. Denn in Den Haag prallen zwei Rechtssysteme aufeinander: das zentraleuropäische und das angelsächsische. Letzteres besagt, dass nur Anklage und Verteidigung Zeugen befragen dürfen. Englische und amerikanische Richter sehen sich deshalb wie Schiedsrichter beim Fußball: Sie wachen über die Regeln, spielen aber nicht mit.

Für Albin Eser, einen von zwei deutschen Richtern am UN-Tribunal, grenzt es an Selbstverleugnung, hunderte Zeugen anzuhören, ohne ihnen Fragen stellen zu dürfen. Eser sitzt still und aufrecht in seiner schwarz-roten Robe und horcht in die Kopfhörer. Nur einmal will er wissen, auf welcher Route McDonald Srebrenica damals verlassen hat und lässt ihn die Strecke auf einer Karte markieren.

Noch nicht einmal das war erlaubt, als das Tribunal 1994 seine Arbeit aufnahm. Das Recht zu fragen haben sich einige Richter etappenweise erkämpft. Albin Eser, noch mehr aber Wolfgang Schomburg, der zweite deutsche Richter am Tribunal, haben die Methoden kritisiert, die vor allem die Amerikaner mitgebracht haben. Neben ihrem ungeliebten Beobachterstatus stört sie, dass Richter nicht einmal Zugriff auf das Archiv der Staatsanwaltschaft mit etwa fünf Millionen Dokumenten haben. „Ich fühle mich unwohl dabei, über das restliche Leben eines Menschen zu entscheiden, wenn ich noch nicht mal diese Daten habe“, sagt Schomburg. Auch der „Pre-Bargaining“ genannte Handel zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung vor dem Prozess, bei dem Geständnis gegen mildes Urteil getauscht wird, ist ihm ein Dorn im Auge. Brutale Freischärler kämen auf diese Weise mit Haftstrafen davon, deren Maß die Opfer zu Recht erzürnte. „Wie soll das die Menschen aussöhnen?“, fragt er.

Selbst die Verhandlung stiftet nicht immer Frieden, berichtet Albin Eser. Zeugen treten nach angelsächsischem Recht immer nur für eine Seite auf. Gegen ihre eigenen Leute sagen Kroaten oder Serben deshalb auch zehn Jahre nach der Tat kaum aus. Bosnier, die etwa den Angeklagten Orić im ersten Verhör belastet hatten, behaupten im Prozess plötzlich das Gegenteil. „Erst haben sie sich bekämpft“, sagt Eser, „und jetzt ist der eine Zeuge für die Anklage und der andere für die Verteidigung. So werden sie noch einmal zu Feinden gemacht.“

So belauern sich die Juristen aus den verschiedenen Rechtssystemen. „Gerade sind drei Staatsanwälte aus Australien und den USA aufgerückt“, erzählt man sich dann auf den Gängen. Denn auch von dieser Zahl hängt ab, wie viel Einfluss die Richter auf den Prozess haben. Selbst mancher angelsächsische Richter gibt inzwischen zu, dass das Recht, das er von zu Hause kennt, „für solche Mammutverfahren wenig geeignet ist“, stellt Eser fest. Der Strafrechtsprofessor mit dem weißen Bart war Direktor des Max-Planck-Instituts in Freiburg. Dort hat er Strafverfahren in aller Welt untersucht, bevor er im September 2004 Richter in Den Haag wurde. Er könne dem angelsächsischen Modell auch manches abgewinnen, erzählt er. Wenn er darüber zu bestimmen hätte, würde er deutsche Strafprozesse gern ein bisschen amerikanisieren. Aber so lange hinziehen wie hier in Den Haag dürften sie sich nicht.

Denn erst vernimmt hier die Verteidigung monatelang Zeugen, anschließend noch einmal die Staatsanwaltschaft. Jeden Einzelnen befragt erst die eine Seite, bevor ihn die andere ins Kreuzverhör nimmt. Spekulative und suggestive Fragen sind nicht erlaubt, immer wieder springen wie in einem Hollywood-Film Verteidiger auf und beanstanden Formulierungen: „Einspruch, Euer Ehren“.

Der Zeuge der Verteidigung, der Kanadier McDonald, ist das gewohnt. „Sie wissen ja von zu Hause, wie das hier läuft“, belehrt ihn der Vorsitzende Richter, ein Malteser, zu Beginn über den Ablauf. Anderen fällt die Art des Verfahrens schwerer. „Manchmal haben wir Zeugen, die nur ihre Geschichte erzählen wollen“, sagt Albin Eser. „Durch dieses ständige Hin und Her der Prozessparteien verstocken die und sagen nichts mehr.“ Die eigentliche Hauptperson des Verfahrens gerate darüber nahezu in Vergessenheit: Naser Orić, der Angeklagte, sitzt in der hintersten Ecke des Gerichtssaals, lauscht in seine Kopfhörer und macht sich Notizen. Seit 150 Verhandlungstagen hat er nichts gesagt, außer, dass er der Übersetzung gut folgen kann.

Wirklich nahe kommen einem die Gefechte nur durch dieses leichte Zittern in der Stimme

Die Anfangseuphorie des Tribunals ist verflogen, das merkt man. „Man muss sich immer wieder daran erinnern, für eine große Sache tätig zu sein“, sagt ein deutscher Mitarbeiter der Anklage. Zum ersten Mal seit dem Nürnberger Prozess 1945 müssen Kriegsverbrecher sich vor einem internationalen Gericht verantworten. Aber mühselig ist es und nicht immer gerecht.

Darum hat sich Esers Gerichtskammer entschlossen, Kriegsopfer nach der Entlassung aus dem Zeugenstand reden zu lassen. Ein alter Mann etwa wollte unbedingt die Namen aller Menschen vorlesen, die in seinem Dorf getötet wurden. So spielt das Gericht ein wenig Wahrheitskommission, nach südafrikanischem Vorbild. Dort wurden die Täter nach dem Ende der Apartheid nicht verurteilt, so lange sie öffentlich über das begangene Unrecht sprachen.

Noch vier Jahre haben die Richter Zeit zu testen, ob und wie solche Gesten zum modernen internationalen Strafrecht passen. Die Vereinten Nationen wollen das kostspielige Haager Tribunal bis 2010 endgültig auslaufen lassen. Danach sollen die Gerichte in Bosnien, Kroatien und Serbien die begangenen Kriegsverbrechen selbst verhandeln. Oder, wie Stefan Waespi, ein Schweizer Staatsanwalt, es ausdrückt: „Dann sind die selbst verantwortlich für das, was geschehen ist“. Ob das gut geht? Die meisten Juristen in Den Haag meinen Nein.

Die Justiz in Exjugoslawien ist gespalten in die Kriegsparteien von einst und schon jetzt mit einfachen Kriminellen überlastet. Richter fühlen sich von Angeklagten bedroht, wenn diese nur eines Raubes, geschweige denn eines “Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ angeklagt werden. Aufwendige Zeugenschutzprogramme wie hier in Den Haag wird es dort kaum geben. Und solch einen Aufwand, „mit so tollen Kopfhörern und Mikrofonen“, sagt Waespi, wird sich dort niemand machen, auch nicht für die ausländischen Richter, die dann zur Unterstützung nach Bosnien geschickt werden. Er kann sich vorstellen, dass die Menschen dort das Geld lieber in Schulen anlegen würden. Es klingt noch nicht mal vorwurfsvoll. „Vielleicht wird später eine zweite Generation die Geschichte noch einmal aufrollen.“

Im Untersuchungsgefängnis des UN-Tribunals kochen 54 Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovaren gemeinsam, sie tauschen Rezepte aus ihren jeweiligen Regionen aus, erzählt Waespi. Dort wird Slobodan Milošević noch mit „Präsident“ angeredet. Vielleicht sogar vom Angeklagten Naser Orić. Bevor er in Srebrenica Serben bekämpft hat, war er Milošević’ Leibwächter.