Einfach mal abhängen

ADRENALIN Sie rammen sich Haken in die Haut und hängen sich an die Decke. Das entspannt, sagen sie. Wenn man den Schmerz überwindet. Ein Nachmittag bei Extrempiercern

VON TOBIAS OELLIG
(TEXT) UND WILLIAM MINKE (FOTOS)

Lukas wischt sich den Schweiß von der Stirn. In seinem oberen Rücken stecken vier Metallhaken, die mit Schnüren an der Decke befestigt sind. Er steht barfuß auf dem genoppten Kunststoffboden, nur eine schwarze Sporthose hat er an. Gleich wird er, an seiner eigenen Haut aufgehängt, im Raum baumeln.

Doch er traut sich nicht, die Beine hochzunehmen. „Diese letzte Entscheidung, sich an die Haken zu hängen, ist das Beste“, sagt er, „das ist der Tod.“ Lukas lächelt kurz. „Die Entscheidung nehmen wir dir jetzt ab“, sagt Andrea trocken und hebt seine Beine an: Sein gesamtes Körpergewicht hängt nun an seiner eigenen Haut. Sie spannt sich immer weiter unter der Last, löst sich von den darunter liegenden Muskeln. Aber sie hält. Er presst vor Schmerz seine Kiefer aufeinander, während Chandler weitere Schnüre an Lukas’ Beinen befestigt. Auch in der Rückseite seiner Oberschenkel und in den Waden stecken kleine dicke Fleischerhaken.

Lukas hat sich auf diesen Sonntagnachmittag gefreut. Er ist 19, ein unauffälliger Typ mit kurzgeschorenen braunen Haaren. Keine Tattoos, keine Piercings. Letztes Jahr hat er Abi gemacht, jetzt wartet er auf einen Medizin-Studienplatz. Über Facebook hat er sich zu einem Suspension-Treffen in Berlin-Kreuzberg angemeldet.

Body-Suspension ist eine Form von Körperkunst, bei der eine Person an temporären Piercings aufgehängt wird. Andrea, Beto und Chandler laden regelmäßig dazu ein. Die drei haben sich in der Piercing- und Tattoo-Szene kennengelernt. Seit 11 Jahren hängen sie sich und andere an Fleischerhaken auf, veranstalten Shows vor Publikum und private Treffen in ruhigerem Ambiente, auch Sommer-Camps in der freien Natur. Lukas ist zum dritten Mal dabei, 150 Euro hat er für die Session heute bezahlt.

Suspension liegt eigentlich ein indianisches Initiationsritual zugrunde. Die Ogala-Sioux nannten es „Sonnentanz“, die Mandan „O-Kee-Pa“. Als Dämonen verkleidete Medizinmänner stachen bei diesen Ritualen kleine Holzpflöcke durch die Haut junger Männer ihres Stammes, hängten sie auf und ließen sie bis zur Bewusstlosigkeit durch die Luft kreisen. Die Ohmacht galt als symbolischer Tod. Danach wurde den Jungen ein Kriegername verliehen und ein neuer Lebensabschnitt begann.

Als das Ritual von westlichen Subkulturen in den späten 1960er Jahren adaptiert und als „Sonnentanz“ praktiziert wurde, wehrten sich nordamerikanische Indianderverbände dagegen. Seitdem wird der Begriff Suspension benutzt. Mittlerweile gibt es weltweit Gruppen, die sich regelmäßig treffen. In Deutschland sind es etwa fünf.

Die sonntägliche Suspension der Berliner Gruppe findet in einem Kreuzberger Tattoostudio einer befreundeten Tätowiererin statt. Die Atmosphäre in der ehemaligen Fabriketage ist entspannt. Reggae läuft, auf einem Holztisch liegen Nüsse, Bananen, Schokolade. Freunde schauen spontan vorbei. Man trinkt ein Bier zusammen, kifft, chillt. Wie beiläufig wird ab und zu jemand aufgehängt. Einer nach dem anderen. Drei insgesamt.

Doch der logistische Aufwand ist enorm: Bevor Lukas abheben kann, muss er sich auf eine Krankenliege legen, die mit einem blauen Plastikschutz überzogen ist. Alle tragen Mundschutz und schwarze Einweghandschuhe, die häufig gewechselt werden. Andrea und Beto markieren die Stellen, an denen die Haken sitzen sollen, mit lilafarbenen Kreuzen. Vier auf dem Rücken, vier an den Beinen, gleichmäßig verteilt. Dann wird desinfiziert. In einer Metallbox liegen steril eingeschweißte Haken bereit, drei bis fünf Millimeter stark. Auf die Haken wird eine mit Gleitgel eingeschmierte Spitze gesetzt, dann auf Kommando gepierct. „So, Lukas, eins, zwei, drei!“ Immer zwei Haken gleichzeitig, damit es nicht so wehtut. Er zuckt jedes Mal zusammen. Andrea und Beto arbeiten schnell. Zehn Haken in zehn Minuten, jeder Handgriff sitzt. Wie ein Formel-1-Boxenteam laufen sie um Lukas herum und machen ihn startklar.

Währenddessen richtet Chandler die Aufhängung ein. Er kramt in einer blauen Sporttasche mit Kletter-Equipment, holt Karabiner und Schnüre hervor und befestigt dann alles an einer Holzvorrichtung, die an der Decke festgeschraubt ist.

Als Lukas von der Liege aufsteht, baumeln zehn massive Metallhaken an seinem Körper. Er nimmt noch einen Schluck Bionade. Aus dem Reggae-Radio plärrt „I got you, babe“ von UB40. „Ich hatte völlig vergessen, wie scheiße weh das tut“, sagt er. Auf seiner Brust leuchten vier rote Punkte, Narben von der letzten Suspension im Dezember. „Ich bin hier, um meine Grenzen zu testen“, sagt Lukas. Chandler fädelt eine schwarze Schnur in die Ösen der Haken.

„Menschen machen das nicht aus sexuellen oder masochistischen Beweggründen“, sagt Erich Kasten, Professor für Psychologie an der Medical School Hamburg. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit Suspension und anderen Praktiken der Body-Modification-Szene. Pathologisch seien Suspensions nicht. Fehlende Initiationsrituale in unserer Kultur seien der Grund für das Interesse an einer Extremerfahrung. „Sensation seeking“ nennt Kasten das, Empfindungssuche.

Als die Haken plötzlich angezogen werden, verzieht Lukas vor Schmerz das Gesicht. Gleich beginnt die „sensation“, die er erleben will. Sein Körper reagiert darauf mit Stresssymptomen: Adrenalin und Kortisol jagen jetzt durch seine Adern, sagen Ärzte. Die Muskeln im Nacken, in den Schultern und im Rücken spannen sich an. Sein Herz schlägt schneller, das Blut rast durch die Gefäße, die sich jetzt verengen. Er bekommt eine Gänsehaut, atmet schneller, flacher. Lukas wischt sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl er fast nackt ist und der Raum kalt, steigt seine Körpertemperatur leicht an. Ein diffuses, durchdringendes Gefühl innerer Unruhe und Nervosität macht sich in ihm breit. Seine Pupillen weiten sich, sein Mund wird trocken. Lukas nimmt die Hände vors Gesicht, schnauft einmal kurz. Es ist zunächst kein schöner Anblick: ein gestresster Mensch am Haken.

Dann, nach etwa zehn Minuten, verändert sich etwas. Lukas wirkt plötzlich gelöster. Seine Gesichtszüge entspannen sich, er lächelt wie abwesend. „Ist richtig bequem“, murmelt er. Dann jauchzt er kaum hörbar. Sein Körper wird jetzt durchflutet von Endorphinen, körpereigenen Opiaten. Die werden zur Schmerzkontrolle ausgeschüttet. Lukas schaukelt sanft hin und her. „Das Schönste ist, wenn ich da hänge und an nichts denke“, wird er später sagen. „Wenn ich diese Ruhe erlebe, einfach da zu sein und nichts machen zu müssen.“ Während er still dort hängt, wird um ihn herum geplaudert, Bier getrunken und geraucht. Aus den Einstichlöchern an den Haken sickert etwas Blut und Wundwasser. Andrea tupft es mit einem Mulltuch ab. „Damit nix auf den Boden kleckert.“

Nach einer knappen halben Stunde ist der Kick vorbei, der Schmerz kommt zurück. Die Endorphinspeicher in Lukas’ Körper sind leergepumpt. Die Superfly-Crew schiebt die Krankenliege unter Lukas’ Körper. Erschöpft sinkt er auf den blauen Plastiküberzug. Das Boxenteam macht sich an die Arbeit. Andrea zieht die Haken aus seinem Rücken und seinen Beinen, wischt sie kurz ab, desinfiziert die Wunden. „Und?“, fragt sie. Lukas lächelt müde. „Das Gefühl, am eigenen Körper zu hängen, ist mit wenig vergleichbar“, sagt er. „Das will man immer wieder haben.“