Postfossiler Umbau der Gesellschaft: Morsch und hohl ist das System

Eine interdisziplinäre Tagung in der Akademie Tutzing nahm die „Politische Ökonomik großer Transformationen“ in Augenschein.

Der erste Kipppunkt ist schon erreicht, der arktische Eisschild beginnt zu schmelzen Bild: reuters

TUTZING taz | Außen völlig intakt, innen völlig hohl. So starb diese Woche just vor den Augen der Gäste der Evangelischen Akademie Tutzing am Starnberger See ein Baum. Der hatte gewiss nicht auf diesen symbolhaften Auftritt gewartet, doch seine morsche Hohlheit illustrierte den Zustand des fossilen Kapitalismus, der in der Akademie drei Tage lang zur Debatte stand. „Politische Ökonomik Großer Transformationen“ hieß das Kongressthema, das der scheidende Akademieleiter Martin Held organisiert hatte.

Etwa hundert Beteiligte verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, darunter eine erkleckliche Riege von Wirtschaftsprofessoren, versuchten zu ergründen, wann und wie eine postfossile Ordnung die jetzige nicht zukunftsfähige ablösen wird.

Dass die postfossile Revolution genauso schwergewichtig sein wird wie die neolithische und die industrielle, darüber erzielten sie schnell Einigkeit.

Uneinig waren sie sich, wie der Übergang erfolgen wird. Wie stabil oder morsch ist das kapitalistische Wirtschaftswachstum? Findet es überhaupt noch statt? Wachsen nicht längst nur noch seine schlimmsten Auswüchse? Staatsverschuldung, Eurokrise, Armut, Ungleichheit, Klimawandel? Ist der Baum deshalb so morsch?

Belesenheitsbesessene Ökonomen zückten Zitate, schossen mit Sekundärquellen. Doch ihre kalten Waffen namens „Grenzkosten“ oder „Effizienz“ sind Teil des Problems und nicht der Lösung – waren es doch genau sie gewesen, die die Natur so ausgehöhlt hatten. Wird „Resilienz“ nicht irgendwann genauso wichtig wie „Effizienz“?, fragte Akademieleiter Held am Ende.

Wolfgang Lucht, im UN-Klimarat IPCC engagierter Physiker vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, präsentierte ein äußerst komplexes Modell der Interaktion von Geosphäre, Biosphäre und Anthroposphäre. „Wir sind am Scheideweg“, befand er, denn wegen der Unumkehrbarkeit von „Klima-Kipppunkten“ wird das heutige Verhalten der Menschheit auch die nächsten Jahrtausende bestimmen. Der erste Kipppunkt ist schon erreicht, der arktische Eisschild beginnt zu schmelzen.

Luchts noch größere Sorge war die Unberechenbarkeit komplexer Ökosysteme und Nahrungsketten. Etwa Extremperioden von Kälte oder Hitze, die sich in Wellenmustern ausbreiten: „Früher zerfielen diese Extreme schnell, heute stabilisieren sie sich wochenlang und treten miteinander in Resonanz.“

Global vernetzte Wissenschaft

Der beeindruckend interdisziplinär denkende Physiker begoss – wenn auch sehr vorsichtig und gewissermaßen mit kleiner Gießkanne – einen kleinen grünen Sprössling namens „geosapientische Transition“: die Möglichkeit, dass die global vernetzte Wissenschaft von heute fundamental anders als noch im 19. oder 20. Jahrhundert agieren und zusammen mit vielen weiteren Akteuren eine zukunftsfähige Ordnung vorbereiten kann.

Sein Computermodell mit dem bürokratischen Titel „LPJmL“ wird im laufenden EU-Projekt „PolFree“ mit Unmengen geisteswissenschaftlich gewonnener Daten kombiniert. „PolFree“ kann für die verschiedenen „Klimapfade“ des IPCC die Verfügbarkeit von Wasser oder Grundnahrungsmitteln in 38 Ländern simulieren. Die Ergebnisse der Szenarien, die mit sagenhaften 1,7 Millionen Variablen und Gleichungen arbeiten, werden zwar erst in einigen Monaten vorliegen. Doch einiges lässt sich laut dem Umweltökonomen Bernd Meyer schon jetzt absehen. Etwa, dass der CO2-Handel nicht viel erreichen könne: „Man bräuchte dermaßen hohe Preise, das wird nicht durchsetzbar sein.“

Von großer Bedeutung werde deshalb die „Dematerialisierung der Produktion“ sein, etwa durch Kaskadennutzung von Rohstoffen. Wird das morsche Holz dann neue Blüten treiben?

Wachstumszwang bekämpfen

Und wie kann man naturfressendes Wirtschaftswachstum beenden? Irmi Seidl von der Universität Zürich zeigte sich überzeugt, dass die Große Transformation erst dann gelingt, wenn der „Wachstumszwang“ in Banken und Unternehmen, in der Alters- und Gesundheitsversorgung sowie weiteren Sektoren gestoppt wird. Diese „Subsysteme“ agierten nämlich ihrerseits durch Zinsen, Renditen und andere Faktoren als „Wachstumstreiber“.

Für jedes Subsystem nannte sie eine Fülle wachstumsbremsender Maßnahmen, etwa Regulierung von Finanzmärkten, Energie- statt Arbeitsbesteuerung oder Reduktion von Erwerbszeit.

Überhaupt: Zeitwohlstand, da waren sich viele einig, wird die neue wichtige Form von Wohlstand – und gleichzeitig Voraussetzung für die „geosapientische Transition“ Richtung Biosphärenbewusstsein. Der morsche Baum am sonnenüberglänzten Starnberger See – vielleicht wird er zur Sitzbank, einladend zum Nachdenken.

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