Bloggerin über Boko Haram: „Eine Art gemeinsames Gedächtnis“

Wie lebt man mit der Bedrohung durch Boko Haram? Die Bloggerin Saratu über die Schwierigkeit, im Rest Nigerias zu vermitteln, was im Nordosten eigentlich vor sich geht.

Weltweit bekannt geworden: die Kampagne „Bring Back Our Girls!“, hier eine Veranstaltung an der Universität von Abuja. Bild: reuters

taz: Frau Saratu, wie sind Sie auf die Idee für das Testimonial Archive Project (TAP) gekommen?

Saratu: Ich habe so viel über die Entwicklung im Norden gelesen und die Nachrichten verfolgt. Die laufen fast immer gleich ab: Was sagt der Präsident dazu, was der Sprecher der Armee, was die Opposition? Es gibt kaum Berichterstattung aus Sicht der Bewohner. Man möchte selbst zum Journalisten werden, was aber nicht geht. Es gibt große logistische Probleme, im Norden zu berichten. Auch internationale Journalisten fahren höchstens für zwei Tage nach Maiduguri und kommen dann sofort wieder zurück.

Nigerianer, die nicht aus der betroffenen Region stammen, haben also kein Bild davon, was dort geschieht?

Genau. Der durchschnittliche Nigerianer kann sich nicht vorstellen, was passiert. Das bedeutet gar nicht, dass er nicht interessiert ist. Es gibt nur niemanden, der Geschichten aus Sicht der Bewohner erzählt, Geschichten über normale Menschen, die ihren Lebensunterhalt verdienen und sich um ihre Familien kümmern wollen.

Boko Haram kämpft mit Gewalt für einen islamischen Staat im mehrheitlich muslimischen Norden Nigerias. Seit 2009 tötete die Miliz bei Anschlägen und Angriffen auf Polizei, Armee, Kirchen und Schulen mehr als 10.000 Menschen. Im April machte Boko Haram Schlagzeilen mit der Entführung von 276 Mädchen aus einer Schule, von denen die meisten noch immer vermisst sind. Kürzlich rief der Boko-Haram-Führer Abubakar Shekau in einem Video in der eroberten Stadt Gwoza ein „islamisches Kalifat“ aus.

Am Wochenende ermordete Boko Haram nach einem Überfall auf die Grenzstadt Gamboru Ngala laut Augenzeugen Dutzende Einwohner. „Sie töten nun Menschen wie Hühner“ sagte ein Einwohner am Samstag der Nachrichtenagentur AFP. Zunächst hätten die Extremisten selektiv Menschen getötet, doch seien sie später zu wahllosen Morden übergegangen. Augenzeugen berichteten, die Kämpfer würden mit Gewehren und Macheten durch die Straßen ziehen und die Einwohner erschießen oder erschlagen. (afp)

Mittlerweile haben Sie dafür gut 70 Menschen interviewt. Wie reagieren die Menschen auf die Gesprächsanfrage? Wollen sie sprechen?

Ja, sobald sie verstehen, dass ich keine Spionin oder Geheimagentin bin. Zuerst müssen sie die Angst überwinden und merken, dass ich eine ganz normale Nigerianerin bin. Aber ich muss hartnäckig bleiben. Ich muss sie überzeugen, dass ich ihnen keine Probleme bringe. Daher gibt es zuerst viel Angst und Misstrauen. Ich muss ihnen vermitteln, dass sie sicher sind. Wenn das klappt, dann vermitteln sie mir häufig weitere Gesprächspartner.

Sind die Menschen nach dem Gespräch auch erleichtert?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen oft gar nicht realisieren, wie schlecht die Situation tatsächlich ist. Es ist für sie zur Normalität geworden, und das ist gefährlich. Erst während der Interviews stellen sie fest, wie schlecht die Lage tatsächlich ist.

Ende 20, ist eine nigerianische Bloggerin. Ihr Projekt ist das Testimonial Archive.

Es gibt also keine Möglichkeit, mit Psychologen zu sprechen?

Mein aktuelles Interview habe ich mit der Gesundheitsministerin von Borno geführt. Sie sagt, es gibt psychologische Unterstützung für jene 57 Mädchen und Frauen, die kürzlich von Boko Haram geflüchtet sind. Auch für andere Frauen gibt es teilweise Möglichkeiten. Sie sagt, dass 80 Prozent der Menschen in den Camps für Binnenflüchtlinge Frauen sind. Doch viele Menschen, die ausgebildet wurden und diese Arbeit leisten können, flüchten selbst wieder aus der Region. Ausreichend ist das alles nicht.

Außerdem scheint es häufig eine Kultur des Verdrängens und Vergessens zu geben. Auch über den Biafra-Krieg wird heute kaum gesprochen.

Ja! Ich muss ständig erklären, warum es wichtig ist, dass diese Geschichten erzählt werden. Eine Nation braucht eine Art „gemeinsames Gedächtnis“. Deshalb geht es in meinem Projekt auch um Staatenbildung. Mir ist es wichtig, dass wir alle die gleichen Informationen haben. Wenn aber nur Menschen aus Borno wissen, was in ihrer Region passiert, zum Beispiel, dass es immer wieder Entführungen gibt, was bedeutet das für uns als Land? Was heißt es, wenn nur eine kleine Gruppe solche Erinnerungen teilt?

In Lagos sagten viele Menschen nach der Entführung der Schülerinnen von Chibok beispielsweise: Wir haben kaum darüber gehört. Ist es wirklich passiert?

Genau das ist das Problem. Es ist schrecklich, dass so etwas passieren kann. Mit TAP versuche ich deshalb, Menschen im ganzen Land zu vermitteln, was im Nordosten tatsächlich passiert.

Gibt es eine Diskussion, die sich mit der Frage nach Versöhnung beschäftigt?

Wir wissen nicht, in welche Richtung das gehen wird. Was mich ganz persönlich beunruhigt ist, dass wir bei der Frage nach Versöhnung mehr an die Täter als an die Opfer denken. Im Nigerdelta hat es zum Beispiel Hilfe für die bewaffneten Kämpfer gegeben. Das schafft den Eindruck: In diesem Land kann man Menschen über Jahre terrorisieren und bekommt dafür eine Belohnung. Natürlich wollen wir, dass die Gewalt aufhört. Aber es darf nicht so sein, dass es fast lukrativ wird, zum Massenmörder zu werden, und die Regierung dann noch Geld zahlt, damit das wieder aufhört.

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