Missbrauchsfall schwappt nach Deutschland

SEXUELLE GEWALT Betreuer eines Kinderprojekts einer deutschen Stiftung sitzt in Schweizer U-Haft

BERLIN taz | Der Verdacht ist gruselig: Könnte es auch in einem Projekt für ADHS-Kinder, das die Münchner Sinn-Stiftung in den Schweizer Alpen ausrichtet, sexuelle Übergriffe gegeben haben? Einer der Betreuer der Kinder mit der Zappelphilipp-Diagnose ist in der Schweiz wegen Übergriffen an 20 Kindern angeklagt. Sollte Missbrauch auch bei dem Alm-Training geschehen sein, wäre das nach der jahrelangen sexuellen Gewalt an der Odenwaldschule erneut ein schwerer Schlag für die reformpädagogische Bildungspraxis – und für Gerald Hüther, den prominenten Hirnforscher, Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident der Sinn-Stiftung.

Tibor B. sitzt seit Längerem in der Schweiz in Untersuchungshaft. Er hat vier Taten an Jungen gestanden. „Der Beschuldigte hatte die meisten Opfer als Betreuer an Schulen kennengelernt“, schreibt die Kantonspolizei. Die Übergriffe hätten meist in B.s Privatwohnungen „oder in zugemieteten Alphüten“ stattgefunden. In den Alpen fand 2010 auch das ADHS-Projekt der Sinn-Stiftung statt, bei dem Tibor B. Betreuer war.

B. war einerseits gern gesehener Schulsozialarbeiter mit dem Spezialgebiet Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Andererseits häuften sich die Hinweise, dass sich die sexuellen Präferenzen des Betreuers auf kleine Jungen richteten. Auch bei der Sinn-Stiftung kam 2011 ein solcher Hinweis an. Sie arbeitete seitdem nicht mit B. zusammen. Eine Strafanzeige unterblieb, da sich die Eltern des betroffenen Kinds damals dagegen entschieden.

Gerald Hüther ist einer der sichtbarsten Köpfe des neuen Lernens. Er war Teil des Bürgerdialogs der Bundeskanzlerin, er tourte gerade mit der Roadshow „Lernlust“ durch die Republik, und sein Projekt „Lieber fünf Wochen Alpen als ein Leben lang Ritalin“ ging durch die Talkshows.

Hüther dementierte, dass es auch bei dem Alm-Projekt Übergriffe gegeben habe. „Es sind keine Ermittlungstatbestände bekannt, die darauf hinweisen, dass es während einer der Alm-Aufenthalte zu einem sexuellen Missbrauch gekommen sein könnte“, sagte Hüther der taz. B. sei einmal mit dabei gewesen, gemeinsam einer Kollegin. Der Leiter der Stiftung, Christian Rauschenfels, sagte zur jetzt bekannt gewordenen Anklage gegen B.: „Wir haben die Eltern informiert und ihnen nicht nur unsere Betroffenheit, sondern unser Angebot der professionellen Unterstützung kommuniziert.“

CHRISTIAN FÜLLER