Neues Buch von Peter Stamm: Im engen Tal

In „Nacht ist der Tag“ besticht der Schweizer Autor Peter Stamm durch kühle Grausamkeit. Seinen Figuren hängt der Mühlstein der Zeit um den Hals.

In Peter Stamms Romanen gibt es keine größere Katharsis. Bild: Stefania Samadelli

Am Ende dann, oder zumindest ganz kurz davor, heißt Gillian der Einfachheit halber Jill und hört einen alten, traurigen Fado: Aus dem Autoradio singt Amália Rodrigues. „Was für eine sonderbare Art zu leben hat mein Herz“, übersetzt Fahrer Marcos etwas unchronologisch, „einsames Herz, unabhängiges Herz, über das ich nicht befehle. Wenn du nicht weißt, wohin du gehst, wieso willst du dann unbedingt laufen.“

Und dann haben wir plötzlich ein paar Sätze in der Hand, die wie eine Summe von Peter Stamms neuem Roman „Nacht ist der Tag“ wirken. Hier zieht sich der Roman zusammen, verdichtet sich zu einer Stimmung, die ihn vorher lose durchzog.

Jill hört das Lied auf dem Weg zu einer herzlich unpassenden Veranstaltung, einem Goa-Rave mitten im Engadin. Auf diesem nimmt sie noch irgendeine Pille und löst sich vollends ab von dem, was wir auf 240 Seiten zuvor gelesen haben. Vielleicht liegt es am Fado, jedenfalls blickt Jill hernach mit neuer Nüchternheit auf ihr Leben.

Peter Stamm: „Nacht ist der Tag“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 253 Seiten, 19,99 Euro.

Schwere Gesichtsverletzungen

Über drei Akte sind wir in das Engadin gekommen: Jill startet als Gillian und liegt im Krankenhaus. Sie hat – anders als ihr Mann – einen Autounfall überlebt und schwere Gesichtsverletzungen davongetragen.

Jetzt braucht sie eine neue Nase und ihr dämmert eine Erkenntnis: „Das Leben vor dem Unfall war eine einzige Inszenierung gewesen. Ihr Job, das Fernsehstudio, die schönen Kleider, die Städtereisen, die Essen in guten Restaurants, die Besuche bei ihren Eltern und bei der Mutter von Matthias. Es musste falsch gewesen sein, wenn es so leicht zu zerstören war, durch eine Unachtsamkeit, eine falsche Bewegung. Das Unglück hatte früher oder später kommen müssen, als plötzliches Ereignis oder als langsamer Verschleiß, aber es war unausweichlich.“

Der Schweizer Peter Stamm schreibt manchmal mit einer kühlen Grausamkeit über seine Figuren. Ob in Romanen wie „An einem Tag wie diesem“, „Sieben Jahre“, oder in seinen Erzählungen – wir haben es mit Personal zu tun, das mehr auf ein sonderbares Leben und eine sonderbare Art zu lieben schaut, als dass es aktiv daran teilnimmt. Es gibt immer eine Unvollständigkeit, mit der es umgehen muss.

Lauter Imponiergehabe

In „Nacht ist der Tag“ schneidet Stamm Rückblenden in Gillians Heilungsprozess: Während sie und Ehemann Matthias sich im Schaum des Medienvolks zu halten versuchten und so Anspruch und Intellekt allerlängstens verrieten, rieben sie ihre Ehe dünn vor lauter Imponiergehabe.

Im zweiten Teil vergehen die nächsten Jahre aus Huberts Sicht, wir folgen einem Prozess der Verbürgerlichung. Während Gillian nie eine Alternative zu denken schien, kommt der anders gestartete Hubert bei einem ähnlichen Lebensstil an: „Früher hatte er sich immer lustig gemacht über die Künstler, die sich auf Professorenposten einnisteten, aber nach Lukas’ Geburt nahm er das Angebot der Hochschule an.“

Während Hubert seiner Produktionsblockade den gnädigen Schleier des akademischen Betriebes überwirft, schreitet seine Frau Astrid zur nächsten Etappe neuer Bürgerlichkeit: Sie wird Esoterikerin. Huberts Schwung zerbröselt zu Trägheit und Orientierungsschwäche. Und so macht auch er sich auf ins Engadin und trifft Jill, die als Oberanimateurin in einem Hotel wirkt. Der Leere, die beide jetzt umschließt wie das enge Tal, haben sich Hubert und Jill von entgegengesetzten Richtungen angenähert.

Ein mühsames Strampeln

Amüsant zu lesen ist der Spott über Fernsehen, Kunst und Literaturbetrieb. Stamms Sprache stellt nie etwas aus, bleibt karg und nah an der Beschreibung der Räume, durch die sich seine Protagonisten bewegen. Wie schon in den früheren Romanen gibt es keine größere Katharsis, sondern eher ein mühsames Strampeln: Den Figuren hängt der Mühlstein der Zeit und der eigenen Geschichte um den Hals, ihre Gedanken müssen wir selbst zu Ende denken.

Diese Personen werden uns nah, gerade durch die Leere, die sie umgibt. Bis wir in ihnen auch Karikaturen zeitgenössischer Debatten finden und Stamm sie uns so wieder entreißt.

Deshalb bleibt nach dem Lesen der Geschmack einer Kurzgeschichte übrig – was bei Peter Stamm alles andere als ein Vorwurf ist. Etwas bricht da ab und wirkt als Rätsel zurück auf die Erzählung. In diesem Fall ist es Jill. Wer allerdings nach Amália Rodrigues auf eine Goa-Party geht, dem kann wohl nicht mehr geholfen werden.

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