Dortmunder Autor und Sozialarbeiter: Schuld und Sühne

Totschlag, Suizidversuch, Läuterung – Gewalt ist wie mein roter Faden, sagt Autor Sascha Bisley. Er will andere vor dem gleichen Schicksal bewahren.

Sascha Bisley, verurteilt, weil er einen Obdachlosen erschlagen hat, ist heute Sozialarbeiter und Autor. Bild: Sabrina Karakatsanis

DORTMUND taz | Sein erster Anblick mag ängstigen. Sobald der Ganzkörper-tätowierte Typ aber den ersten Satz sagt, wandelt sich dieser Eindruck. Die Erscheinung des harten Kerls erhält etwas Zerbrechliches, dezent Charmantes, wenn er spricht. Der Mann ist ein Künstler, der gern mit Klischees spielt. Vor allem, wenn es um die eigene Person geht.

Sascha Bisley verarbeitet Teile seines Lebens zu schwarzhumorigen Geschichten. Sein Blog „dortmund-diary“ zählt zu den beliebtesten der Region. Wenn er zu Lesungen antritt, bebt die Bühne. Doch nicht alles kommt zur Sprache.

„Das Thema Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben“ sagt er, im Wissen, dass dieser Faden nie abreißen wird. Bisley hat mit 19 Jahren einen Menschen getötet. Mit 3,3 Promille im Blut – was er nicht als Entschuldigung gelten lässt. Heute weiß er, dass er mit dieser Schuld weiterleben kann. Weil er es muss.

Der 40-Jährige zeigt Manieren: Er hilft in den Mantel, hält Autotüren auf und liebt es, fein zu speisen. Seine Vergangenheit scheint unsichtbar – doch er nutzt sie, um andere vor dem Schlimmsten zu bewahren. In Zusammenarbeit mit dem Innenministerium von Nordrhein-Westfalen.

Ein merkwürdiges Kind

Geboren wurde er als jüngstes von sieben Geschwistern nahe Iserlohn, behütete Kindheit, heiles Elternhaus. „Ich wurde nie geschlagen, mir wurde nie Schlimmes angetan.“ Doch Sascha ist merkwürdig. Nicht, weil er mit fünf Jahren schon lesen kann. Sondern weil er bereits als Kind „Aktenordner wie bei der Polizei“ anlegt.

Er denkt sich Straftaten und die Vita von Kriminellen aus, verfasst Fahndungsberichte. „Ich klebte Zeitschriftenfotos von Atomexplosionen oder Kriegsverletzten in Schulhefte. Alle dachten, ich hätte einen an der Mütze, aber das vergehe schon wieder.“

Sascha wird Außenseiter in der Schule, versucht Klassenclown zu sein, gehört aber nie dazu. „Ich fühlte mich schon immer zur dunklen Seite hingezogen. Niemand aus der Familie hätte damit gerechnet, dass ich so weit unten lande: im Knast für eine Gewalttat mit Todesfolge.“

Wie es dazu kam, kann er sich bis heute nicht erklären, doch er kennt seinen Weg in die „äußerst gewaltbereite Szene“. „Wenn du Außenseiter bist, zieht dich das Leid anderer Menschen an. Ich habe mir ihren Schmerz wie neue Schuhe angezogen und wurde damit selbst immer größer.“

„Immer auf die Fresse“

Es begann bei den Fußball-Hooligans. „Wir haben blind ausgeteilt. Immer auf die Fresse. Jedes Wochenende. In der Szene ist es so, dass man irgendwann nur noch mit diesen Leuten rumhängt, während der Freundeskreis sich verabschiedet. So bleibst du im Kosmos der Gewalt.“ Der Mechanismus funktioniere über Freundschaft. „Da wird keine Ideologie in Leute eingepflanzt. Die merken, da ist ein labiler Charakter, der hat sonst keine Freunde.

Wenn drei Zwanzigjährige mich als Dreizehnjährigen mittags von der Schule abholten und auf eine Dose Bier einluden, machte das schwer Eindruck. Und ich wollte dazugehören.“ Sechs Jahre lang gehörte er dazu. „Ich war dem Alkohol und den Drogen verfallen, was jeden Gewaltexzess begleitete.“

Über seine brutalste Tat spricht Bisley schonungslos: „Wir sind zu zweit über einen Obdachlosen hergefallen nach durchzechter Nacht. Handgreiflichkeiten, dann eine Schlägerei, schließlich haben wir ihn komplett zusammengetreten, minutenlang. Genau so, wie man es aus Überwachungsvideos in U-Bahnhöfen kennt. Er hat es nicht überlebt.

Am Morgen klingelte das Sondereinsatzkommando, meine Mutter war auf einer Kaffeefahrt. Die rannten die Tür ein und holten uns raus.“ Ein Jahr Untersuchungshaft, verschiedene Gefängnisse. Zuvor saß er zwar nie im Knast, aber „jedes Wochenende auf der Wache“. Immer in Polizeigewahrsam, es liefen 17 Verfahren gegen ihn, Nötigung, Körperverletzung.

„Ich habe mich furchtbar geschämt“

Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Haft, davon zwei auf Bewährung. Da das Jahr Untersuchungshaft angerechnet wurde, kam Bisley auf freien Fuß. In der Jugendpsychiatrie hatte man ihm zuvor eine verminderte Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit bescheinigt, der Blutalkoholwert kam erleichternd hinzu. „Das Urteil war mir mehr als unangenehm. Ich habe mich furchtbar geschämt. Angehörige des Opfers waren da, auch meine Familie. Und ich bekam nur 100.000 Mark Geldstrafe und konnte nach Hause gehen.“

Bisley, kettenrauchend: „Nur ein Jahr Knast für so eine schlimme Tat – damit bin ich oft konfrontiert worden. Ich setze mich dem aber bewusst immer noch aus. Zweimal pro Woche haue ich die Geschichte in Schulen auf den Tisch.“ Bis heute habe er nachts Albträume, Geräusche, Gerüche, das Horrorszenario der Tat komme täglich hoch. Bis heute übe er, sich selbst zu vergeben. „Wenn das der Preis für meine Präventionsarbeit ist, die ich jetzt tun kann, zahle ich den gern.“

Ob er seine „Freunde“ aus der gewaltbereiten Szene schnell loswurde? „Nein, nie!“, sagt der Sauerländer nachdenklich. Auch zwanzig Jahre später nicht. „Sie wissen, wo ich wohne.“ Sie stehen manchmal da und winken. Oder fotografieren. Keine Angriffe mehr. „Aber sie wollen zeigen, dass sie wissen, wo ich bin.“

Bisley kennt sich. „Ich habe ständig anderen auf die Schnauze gehauen, es genossen, Gewalt auszuteilen und einzustecken. Ich hatte genauso Freude daran, wenn man mir selbst die Birne einhaute.“ Es sei um gebrochene Nasen und Gesichter voller Blut gegangen, „das durfte auch gern mein eigenes sein.“ Gewinnen war nicht sein Ziel, sondern sich zu fühlen. „Das ist immer noch in mir.“

Der „innere Vulkan“

Bisley hat in Therapien gelernt, mit dem „inneren Vulkan“ umzugehen. Seine Arbeit sei aber die beste Therapie. „Ich sehe ja, wie ich mit dem, was ich damals angerichtet habe, anderen helfen kann. Ich bin für die Leute authentisch. Gefährdete Kids, die als beratungsresistent gelten, kommen freiwillig zu meinen Seminaren. Habe mit Tausenden zu tun gehabt, wenn nur hundert dabei sind, die eine andere Richtung einschlagen, ist das doch was.“

Seine Läuterung kam im Gefängnis. „Ich habe da drei Monate lang täglich auf die Schnauze gekriegt. Mit Kochtöpfen und Eisenstangen auf die Birne, Stechen mit Spiegelscherben und vieles mehr. Ich sah erstmals Gewalt so, wie sie eigentlich jeder sieht, als etwas vollkommen Zerstörerisches. Es machte mich kaputt. Und das war gut so.“

Zu dieser Einsicht wäre es beinahe nicht gekommen. Der Straftäter bekam unerträgliche Angst. Vor sich selbst. In seiner Einzelzelle konnte er Gedanken und Schuld nicht entfliehen. Ausweg Selbstmordversuch. „Ich hängte mich mit einem Gürtel an die Heizung, bin dann sitzend seitlich vom Klo gerutscht. Arme in die Hose gesteckt, damit ich mich nicht abstützen kann. Kurz bevor mein Arsch auf dem Boden war, baumelte ich in 1,20 Meter Höhe mit den Füßen nach vorne an der Heizung.

Als ich ohnmächtig wurde, muss sich der Gürtel gelöst haben.“ Dann stand er „unter Beobachtung“, musste rund um die Uhr alle 30 Minuten einen Arm heben – als Lebenszeichen für die Wärter. Bisley wollte nun nur noch eins: ein normales Leben führen. „Ich hatte einen Mann umgebracht, fast mich selbst und damit wohl auch meine Familie. Das konnte nicht richtig sein.“

Seine Stimme bricht

Nach der Haft kam das Stück Normalität. Durch den Rhythmus, den er im Gefängnis gelernt hatte, „der gut für mich war“. Aufstehen, arbeiten, essen, schlafen. Dann, nach dreißig Jahren im Sauerland, der Umzug. In Dortmund fand er den Raum und das Potenzial, seine Kreativität als Autor auszudrücken. Und sein Leben fand überraschend Sinn. Ein Bekannter, Streetworker beim Jugendamt, kam mit einer Kollegin zu Besuch.

„Diese Kollegin war früher Betreuerin unseres Opfers. Sie brachte mir ein Porträt mit, das der Obdachlose vor seinem Tod von ihr gemalt hatte.“ Bisleys Stimme bricht. Die Sozialarbeiter boten ihm ein Antigewalttraining an. Er sollte auf die andere Seite wechseln, das Training leiten, Gespräche mit Tätern wie Opfern führen. Ihm war klar, „wenn ich überhaupt noch etwas Gutes tun kann, dann damit.“

Aus der ehrenamtlichen Arbeit erwuchs vor fünf Jahren die erste Honorarstelle beim Jugendamt Schwerte. Dortmund, Iserlohn und Hemer folgten. „Es war das erste Mal im Leben, dass ich etwas tat, was sich gut anfühlt und gleichzeitig auch noch gut ist.“ Vor zwei Jahren kam der Job beim Innenministerium von Nordrhein-Westfalen hinzu.

„Der Dreck ist passiert, leider“

Der Exhäftling übt in Gefängnissen als Experte für Körpersprache angemessenes Verhalten mit Insassen wie Angestellten. „Ich habe früher ja nichts anderes getan, als in Sekunden Bewegungsmuster gescannt. Augen, Mimik, Sprache, Handhaltung, Fußstellung – ich wusste sofort, wen ich gefahrlos verprügeln kann.“ Insassen kurz vor der Entlassung sind ihm besonders wichtig. „Die wissen nicht, wie sie draußen aus Gefahrensituationen rauskommen, ohne zu schlagen.“

Bisley weiß, wie das geht, was ihm nun neben der Sozialarbeit auch sein Autorendasein ermöglicht. „Einerseits denke ich: Das habe ich mir verdient, weil ich es selbst erarbeitet habe. Andererseits weiß ich, dass ich Geld mit dem Dreck verdiene, den ich damals fabriziert habe. Aber der Dreck ist ja leider passiert, und das jetzt ist das Beste, was ich daraus machen konnte.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.