Todesurteil für einen See

Es dauert lang, bis der riesige See geschädigt ist. Doch die Folgen sind fast nicht wieder gutzumachen

von FRANÇOIS MISSER
und DOMINIC JOHNSON

Er ist mindestens 12 Millionen Jahre alt und hält ein Sechstel der Süßwasserreserven der Welt. Der Tanganjika-See in Ostafrika, der sich zwischen Tansania und der Demokratischen Republik Kongo erstreckt und an seinen beiden Enden an Burundi und Sambia grenzt, steht in Alter und Tiefe nur dem sibirischen Baikal-See nach und enthält die größte Artenvielfalt aller Seen der Erde, darunter hunderte von Spezies, die es nirgendwo anders gibt. Doch nun warnen Wissenschaftler: Das einzigartige Ökosystem dieses Sees ist akut durch die Folgen des globalen Klimawandels bedroht – und damit auch die Lebensgrundlage von Millionen Menschen in einem der politisch instabilsten Gebiete der Welt.

Wie so oft in der globalen Klimapolitik erwachsen aus mikroskopischen Veränderungen, die lange unbemerkt bleiben, dramatische Auswirkungen, die sich ganz plötzlich bemerkbar machen können. Die Lufttemperatur rund um den See ist seit den 60er-Jahren um 1,3 bis 1,7 Grad gestiegen. Die Windgeschwindigkeit ist gesunken – von 1,4 bis 2,5 Meter pro Sekunde Anfang der 70er-Jahre auf 0,5 bis 1,5 Ende der 80er-Jahre, mit weiteren Verringerungen seitdem. Zusammen mit zunehmender Trockenheit in der umliegenden Region ist das Ergebnis: Das Wasser im See wird wärmer und bewegt sich langsamer; der Wasserpegel sinkt, der See verkommt.

Dieser Prozess ist noch längst nicht an seinem Ende angelangt. Bisher sind die Wassertemperaturen im See um knapp ein halbes Grad angestiegen. In 80 Jahren könnte der Anstieg nach im Fachmagazin Nature veröffentlichten Prognosen 1,7 Grad betragen. Das wäre für den See wohl das endgültige Todesurteil.

Für die Versuche, in einer der ärmsten und konfliktgeladensten Regionen der Welt Frieden und Entwicklung zu fördern, wäre das fatal. Rund zehn Millionen Menschen leben im Einzugsgebiet des Sees, die meisten von ihnen in absoluter Armut und von Dauerkriegen geplagt. Während der Kriege im Kongo und in Burundi waren die Küstenregionen des Tanganjika-Sees Aufmarschgebiete für Militärs und Rebellen, zahlreiche Hafenstädte sahen den Transit von Flüchtlingen und geschmuggelten Waffen.

Fisch aus dem Tanganjika-See ist zugleich die wichtigste einheimische Quelle tierischen Eiweißes für die Bevölkerung der Region, von der ein hoher Anteil unterernährt ist. Ein Kollaps der Fischerei hätte verheerende Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit und die ohnehin geringen Möglichkeiten zur Selbstversorgung, von deren Stärkung wiederum das Gelingen der Friedensprozesse im Afrika der Großen Seen abhängt.

Seit 2001 registriert Burundis Hauptstadt Bujumbura am Nordende des Tanganjika-Sees fallende Wasserstände. Als der Rückgang Ende Oktober dieses Jahres anderthalb Meter erreichte, schlug die Hafenbehörde Alarm: Es könnten nicht mehr mehrere große Schiffe gleichzeitig anlegen – und immer öfter müssten Waren weit vor dem Hafen umständlich auf kleine Boote umgeladen werden. „Wenn nichts unternommen wird, muss der Hafen in vier oder fünf Monaten schließen“, sagt der Hafendirektor. Burundi mit sechs Millionen Einwohnern ist nach 12 Jahren Bürgerkrieg für seinen Wiederaufbau stark von Importen abhängig, und diese kommen zu 90 Prozent über den Tanganjika-See aus dem südlichen Afrika.

Das Weltklima und die lokale Politik sind bei der Suche nach den Ursachen der Krise des Sees nicht zu trennen. „Der sinkende Pegel folgt auf exzessive Verdunstung aufgrund des Klimawandels, der wiederum auf erhebliche Umweltzerstörungen zurückzuführen ist“, erklärte der burundische Ökologe Boniface Nyakageni. Während des Bürgerkrieges sind in Burundi weite Waldflächen abgeholzt worden – von Flüchtlingen auf der Suche nach Land, von Militärs auf der Suche nach Rebellen. Die Erosion hat dramatische Ausmaße angenommen, immer mehr Erde wird dadurch in die angrenzenden Seegewässer gespült. Dadurch nimmt die Verschlammung des Sees zu. In manchen Regionen gibt es überhaupt keine natürliche Vegetation am Seeufer mehr.

Das hat die Selbstregulierung des Tanganjika-Sees gestört. Dessen Wassersystem ist extrem kompliziert. Der Rusisi-Fluss, der aus dem weiter nördlich liegenden Kiwu-See kommt und zwischen den beiden Seen die Ostgrenze des Kongo zu Burundi und Ruanda bildet, speist ihn ebenso wie mehrere Flüsse aus Tansania und unzählige kleine Bäche und Ströme aus den Bergen rings um den See. Am Westufer wiederum fließt der Lukuga-Fluss aus dem Tanganjika-See ab; er bildet einen Zufluss des Kongo-Flusses, der sich tausende Kilometer weiter westlich in den Atlantischen Ozean ergießt. Das erklärt zum Beispiel, wieso sich im Tanganjika-See Heringe aus dem Atlantik angesiedelt haben.

Der Wasseraustausch im See dauert, so haben Geologen ausgerechnet, 7.000 Jahre, wobei manche der allertiefsten Gewässer Millionen von Jahren alt sind. Der Tanganjika-See ist bis zu 1.500 Meter tief; er liegt umgeben von Bergen in einer tiefen Spalte des afrikanischen Rift Valley, und an seinen tiefsten Stellen öffnet sich die mit Wasser gefüllte Spalte bis zu 800 Meter unter dem Meeresspiegel. Nur die obersten 100 bis 200 Meter des Wassers enthalten Sauerstoff. Klimatische Veränderungen brauchen daher lange, bevor sie den See beeinträchtigen – aber wenn sie einmal eingetreten sind, sind die Folgen fast unmöglich rückgängig zu machen.

Mit sinkenden Wasserpegeln und verlangsamtem Wasseraustausch verringert sich der Sauerstoffgehalt im See, der Anteil „toten“ Wassers nimmt zu, wichtige Mineralien im Wasser konzentrieren sich am Seeboden, der Planktongehalt nimmt ab und damit die Verfügbarkeit von Nährstoffen für Fische. Dazu kommt, dass die Küstenstädte sämtliche Abwässer ungeklärt in den See leiten.

Der Rusisi-Fluss, der Wasser aus dem Kiwu-See in den Tanganjika-See bringt, ist zudem in den letzten Jahren sehr viel niedriger als sonst – das liegt an Abholzung und Versteppung im Ostkongo, aber auch an den Folgen des globalen Klimawandels, der in Teilen Ruandas, Ugandas und Kongos den regelmäßigen Wechsel von Trocken- und Regenzeiten durcheinander bringt und oft zu lokalen Dürren führt. Diese beeinträchtigen auch die Produktivität der Rusisi-Wasserkraftwerke, eine der wichtigsten Stromquellen für Burundi, Ruanda und Ostkongo. Am kongolesischen Lukuga-Fluss, der Wasser aus dem Tanganjika-See abführt, lässt ein vor Jahrzehnten gebautes Damm- und Rückhaltesystem mangels Wartung wiederum viel mehr Wasser aus dem See heraus als es sollte. Und im südlichen Einzugsgebiet des Sees hat Sambia neue Staudämme gebaut, die den Zufluss von dort verringern.

Die Fischerei im Tanganjika-See steht damit vor einer ernsten Krise. Bis zu 200.000 Tonnen Fisch pro Jahr holten bislang die Fischer aus dem See – sicherheitsbedingt konzentriert sich das auf wenige kleine Gebiete, die damit überfischt werden. Sämtliche industriellen Fischereibetriebe am See sind inzwischen geschlossen – Folge der Wirtschaftskrise seiner Anrainerstaaten. Rund 45.000 Fischer sind noch aktiv, aber sie fangen immer weniger. Der Biologe Pierre-Denis Plisnier in Brüssel, der seit vielen Jahren die Krise des Sees beobachtet, erläutert: Wenn das Wetter kälter und windiger ist, gibt es im Wasser mehr Plankton und daher auch mehr Sardinen, die sich von Plankton ernähren und das wichtigste Fangprodukt der Kleinfischer darstellen. In wärmeren, stilleren Jahren – und die werden zunehmend zur Regel – profitieren größere Fische wie der Nilbarsch, von dem mehrere Arten im See heimisch sind. Doch das stört das Artengleichgewicht, und insgesamt nimmt die verfügbare Menge Fisch ab.

Plisnier leitet Climfish, ein gemeinsames Forschungsprojekt mehrerer belgischer Universitäten am Tanganjika-See. Vor zwei Jahren veröffentlichte Plisniers Team in Nature eine Studie, die erstmals die Auswirkung des Klimawandels auf die Fischerei im Tanganjika-See zu beziffern versuchte. Zwanzig Prozent weniger Plankton, schrieben sie, bedeutet am sambischen Hafen Mpulungu am Südende des Sees 30 Prozent weniger Fisch. Auf dieser Grundlage müsse nun geklärt werden, wie eine nachhaltige Fischereipolitik aussehen könne.

Es seien nun, so Plisnier, dringend Investitionen in Messstationen und Fachpersonal nötig, zum Beispiel durch internationale Organisationen. „Sonst haben die Länder im Afrika der Großen Seen bald nicht mehr die Informationen, die sie brauchen, um das Phänomen des Klimawandels zu verstehen und daraus nützliche Prognosen zu erarbeiten.“ Der belgische Forscher fordert auch eine bessere Kooperation unter den Anrainerstaaten des Sees. Bis vor kurzem befanden sich die meisten Anrainerstaaten mehr oder weniger im Krieg miteinander. In Burundi und Kongo können reguläre Messungen nicht stattfinden, sondern nur in Tansania und Sambia.

Derzeit gibt es weder auf nationaler noch auf regionaler Ebene eine für den See anwendbare Fischerei- und Umweltpolitik, erklärte der Koordinator des regionalen „Lake Tanganyika Management Planning Project“ (LTMPP), Benoit Bihamiriza, jüngst in einer Vorlage für ein Expertentreffen. „Die Probleme des Sees beginnen auf dem Land. Landeigentum und Verantwortung für Landpflege ist oft unklar, Information über bessere Techniken erreicht die Anwender nicht.“

Damit sich all das ändert, muss politische Stabilität einkehren. Das Afrika der Großen Seen befindet sich in einer Phase rasanten Bevölkerungswachstums mit einem kriegsbedingt immensen Nachholbedarf an Wiederaufbau und ökonomischer Entwicklung. Wie dieser Bedarf erfüllt werden soll, wenn die lokale Nahrungs- und Energieproduktion nicht ganz schnell ganz stark steigt, weiß keine Regierung der Region. Dies ist ein langfristiger Instabilitätsfaktor. Und die ökologische Krise des Tanganjika-Sees erschwert die Suche nach einer Lösung zusätzlich.