Journalistin über Pädophilie: Der Hypnose erlegen

„Zeit“-Autorin Heike Faller mag den Nannen-Preis für ihre Pädophilenporträts verdient haben. Für den Gegenstand ihres Stücks ist er ein Skandal

Homepage des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“. Bild: dpa

BERLIN taz | Heike Faller hat eine großartige, bis ins Detail durchkomponierte Fallstudie eines Pädophilen geschrieben. Die Reporterin hat am Freitag für „Der Getriebene“ den Henri-Nannen-Preis für die beste Reportage 2013 bekommen. Es wäre ganz falsch, aus journalistischer Perspektive daran herumzukritteln. Sieben Seiten Zeit-Magazin hat Faller virtuos mit einem brennenden und ungelösten Thema bespielt. Gratulation!

Die Nannen-Jury freilich hat keinen Preis verdient, im Gegenteil, sie muss sich fragen lassen, wie sie darauf kommt, Empathie für einen Pädophilen auszuzeichnen. Die Reporterin hatte ein halbes Jahr einen Pädophilen begleitet, der versucht, seine sexuelle Neigung nicht auszuleben. Der Mann hat sich mit Tausenden Kinderpornos vorgeglüht. Ehe er sich auch an echten Knaben vergeht, hat er in Berlin bei „Kein Täter werden“ angerufen, um sich therapieren zu lassen.

Die Autorin protokolliere kühl, ohne ihre Einstellung zu Pädophilie erkennen zu lassen, laudatiert die Jury. „Vielleicht ist es gerade diese Haltung, die es möglich macht, dass ein Leser irgendwann ungewollt beginnt Anteil zu nehmen, vielleicht sogar so etwas wie Verständnis zu empfinden.“

Der Henri-Nannen-Preis gehört zu den begehrtesten Auszeichnungen im deutschen Jornalismus. Er erinnert an "Stern"-Gründer Henri Nannen, der dieses Jahr 100. Geburtstag hätte. Der Preis wurde am 26.4. zum neunten Mal vergeben.

Für die beste Reportage wurde Heike Faller geehrt, die einen Patienten eines Präventionsprojektes für Pädophile begleitet hatte.

Der Preis für Qualitätsjournalismus ging an die vor Monaten eingestellte "Financial Times Deutschland". Die Jury verlieh der "FTD" einen Sonderpreis für deren letzte Ausgabe. Diese sei "ein Meisterstück des gedruckten Journalismus". Die Redaktion hatte eine schwarze Titelseite mit dem abgewandelten Titel "Final Times" drucken lassen, die Seiten rückwärts gezählt und ihre besten Geschichten aus fast 13 Jahren resümiert.

Als Investigativ-Journalist wurde Wolfgang Kaes vom Bonner "General-Anzeiger" geehrt. Er stolperte über eine Anzeige, mit der eine Frau 16 Jahre nach ihrem Verschwinden für tot erklärt werden sollte, und ging der Sache im Alleingang nach. Am Ende klärte Kaes den Tod der Frau auf, ihr Ex-Mann wurde wegen Totschlags verurteilt.

In der Sparte "Dokumentation" wurden Fabian Gartmann und Sönke Iwersen für einen "Handelsblatt"-Artikel über den Unternehmer Anton Schlecker ausgezeichnet.

Den Preis in der Kategorie "Essay" bekam der Politikchef der "Zeit", Bernd Ulrich, für einen Reisebericht über deutsche Vergangenheitsbewältigung.

Im Bereich "Foto-Reportage" gewann Sandra Hoyn von emerge-mag.com mit einem Beitrag über kleine Kinder in Thailand, die für einen Hungerlohn brutal boxen müssen.

Der Preis für Verdienste um die Pressefreiheit ging an René Wappler von der "Lausitzer Rundschau" für die Berichterstattung über Rechtsextreme. Die Ehrung für das publizistische Lebenswerk erhielt die Herausgeberin der "Münchner Abendzeitung", Anneliese Friedmann.

Dieser Satz ist eine Geschmacklosigkeit. Und ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Sie nämlich brauchen unser Ohr, unsere Empathie und, ja, unsere konkrete Hilfe. Das politische Ergebnis einer dreijährigen Aufdeckung von Pädokriminalität ist doch dieses: Tausende Opfer sexueller Gewalt haben bis heute keinen Cent Hilfe bekommen – aber für ein knappes Hundert Männer, die kein Täter werden wollen, gibt die Justizministerin 387.000 Euro aus.

Jedes Jahr. Niemand will das Projekt stoppen. Das aber gehört zur Wahrheit dazu: Opfer bekommen Millionen leerer Versprechen, die potenziellen Täter Geld, Verständnis und einen herausragend wichtigen Preis.

280-mal Jungen missbraucht

Man kann dem Journalismus schlecht vorwerfen, Missbrauch zu ignorieren. Zusammen mit sozialen Netzwerken, in denen Opfer zunächst namenlos ihr Schweigen brechen konnten, ist es Reportern wie Jörg Schindler gelungen, die gut getarnten und mächtigen Netzwerke um Canisius-Kolleg und Odenwaldschule zu dechiffrieren.

Das Thema sexuelle Gewalt ist medial viel präsenter als etwa 1999, wo eine erste Reportage über systematischen Missbrauch im Odenwald keine einzige Agenturmeldung nach sich zog. Unvorstellbar heute, der Ticker läuft über mit Fällen wie zuletzt Andreas L. aus Salzgitter, der als Priester entlassen wurde, weil er 280-mal Jungen missbrauchte. Und selbst das ist nur die Spitze: Jeden Tag gehen bei der Polizei 33 Missbrauchsanzeigen ein.

Das Opfer rückt ins Rampenlicht, wenn ein abscheuliches Verbrechen beklagt werden kann. Wenn es aber darum geht, die aus der Bahn Geworfenen wieder aufzurichten, sind die Medien blind. Auch die sozialen Ursachen in den Institutionen interessieren kaum – „wir wollen keine Hintergründe, sondern Höschen“, scheint die voyeuristische Formel mancher Chefs vom Dienst zu sein.

Der Täter hingegen ist immer interessant: Vor wie nach der Tat, als kapuzentragender Mörder genauso wie als charismatischer Pfarrer oder Pädagoge: „Warum? Warum er?“ Diesen hypnotisierenden Fragen ist auch Heike Faller erlegen – und mit ihr die Nannen-Jury.

Die Geschichte der Päderastie ist der ewige Versuch, sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu rechtfertigen, vom pädagogischen Eros der Griechen bis zu den 68ern, die die sexuelle Befreiung der Kinder direkt auf ihr eigenes Genital lenkten. Mit der Auszeichnung der „Getriebenen“ hat die Jury nun einen neuen Prototypen von Rechtfertigungsliteratur erzeugt: Verständnis für die vermeintliche Ausweglosigkeit des Triebs bei Pädophilen.

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