Roman von Sibylle Berg: Gehasst von Herzen

Sibylle Berg, die böse Märchenerzählerin. In „Vielen Dank für das Leben“ schubst sie ihren hermaphroditischen Helden gekonnt über einen dornigen Kreuzweg.

Mann oder Frau? Diese Unklarheit ist nicht die einzige Frage rund um die Protagonistin Toto. Bild: imago/blickwinkel

Kurz vor Totos Tod bemerkt ihr Mörder, der Investmentbanker Kasimir, dass sein Opfer „der perfekte Mensch“ ist: „Der Prototyp. So war das Universum geplant gewesen, und dann war irgendetwas schiefgelaufen.“ Nach herkömmlichen Maßstäben gescheitert ist auch im Leben des perfekten Menschen auf bis dahin 367 Seiten alles Denk- und Undenkbare.

Sibylle Berg, die seit ihrem Debütroman „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997) mit beachtlicher Ausdauer ihr murphyeskes Thema „Was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“ bearbeitet, hat auch mit „Vielen Dank für das Leben!“ keine nennenswerte Kurskorrektur vorgenommen. Allerdings treibt sie in ihrem neuen Roman die hellsichtige Kunst des Schwarzmalens formal und inhaltlich auf die Spitze.

Das liegt zuallererst an Toto, der weder Mann noch Frau, sondern Hermaphrodit ist. Bei seiner Geburt durch eine alleinstehende Alkoholikerin in der DDR anno 1966 wird er kurzerhand dem männlichen Geschlecht zugeschlagen; Jahrzehnte später im Westen, bei einer Operation anlässlich einer Nierenspende, dem weiblichen.

Sibylle Berg: „Vielen Dank für das Leben“. Hanser, München 2012, 400 Seiten, 21,90 Euro.

Menschliche Niedertracht

Doch diese „Unklarheit“ ist nicht Totos einziger Defekt: Zeit seines Lebens wird er, sie oder es verraten, verletzt, missachtet, gequält, ausgegrenzt, gedemütigt – und doch bringt ihn all die menschliche Niedertracht, die ihm entgegenschlägt, nicht aus der Fassung, kümmert er sich unermüdlich um andere, bewahrt er seine Unschuld, seine Integrität, deren schönster Ausdruck seine Stimme ist. Und wird dafür von Herzen gehasst.

So trägt Toto, von der allwissenden Autorin einen dornigen Kreuzweg entlanggeschubst, Züge einer Messiasgestalt, eines heiligen Idioten und auch des klagesingenden Riesenbabys Antony Hegarty.

Sein Martyrium führt aus dem tiefsten Sozialismus und einer vom Alkohol schwer gezeichnete Diktatur des Proletariats über sektenhafte Ausläufer der 68er-Bewegung mitten in die zynischen achtziger Jahre samt angrenzender Spaßgesellschaft in der Bundesrepublik. Von dort geht es weiter in die immer stärker vom Kapitalismus geprägte Zukunft, in der die alten Europäer sich mühsam als Servicekräfte für Touristen aus der ehemals Dritten Welt verdingen, bis eine weitere, vorläufig letzte Wende sich abzeichnet: Die Frauen haben endgültig das Ruder übernommen, „die Welt war so vernünftig geworden“.

Dunkelster Punkt der Epoche

Mit spitzen, treffenden Sätzen bringt Berg jedes Zeitalter auf seinen dunkelsten Punkt, die graue Tristesse der späten DDR genauso wie die saubere Zukunft, in der es nichts gibt, „was nicht reguliert, eingeschränkt, überwacht und gezügelt gewesen wäre“: „Humor nicht mehr vorhanden, wie alles Unnütze.“

In jeder Epoche, an jedem neuem Ort trifft Toto auf Zeitgenossen, die es zuverlässig nicht gut mit ihm meinen. Geradezu zärtlich porträtiert Sibylle Berg jeden einzelnen in seinem traurigen So-geworden-Sein: die misogyne Hebamme, die gemeine Heimleiterin, den fiesen Pfarrer im Männerheim, den WG-Kumpel auf St. Pauli, die von Toto gepflegte Todkranke, die vegane Pariser Polizistin, um nur wenige zu nennen.

So verschieden sie auch scheinen, ihr Hass auf Toto speist sich aus der Frustration über ein letztlich unerhebliches Leben, das weder durch Siege noch Niederlagen Bedeutung gewinnt. Das ist die Krux des Buches: dass es die immer gleiche Geschichte viele Dutzend Mal wiederholt. Und es ist zugleich ihre Überwindung. Ja, man kann die gleiche Geschichte in unendlich vielen Varianten erzählen.

Böse Märchentante

Das Ganze ist natürlich nur auszuhalten, weil Sibylle Berg in dem ihr eigenen Ton der bösen Märchentante schreibt, der über die Jahre flüssig, eleganter und mit der richtigen Dosis Wortwitz und Kalauer zwar nicht leicht, aber doch verdaulich geworden ist.

Auszuhalten ist es auch, weil Toto dem Leser und vermutlich selbst der Autorin fremd bleibt. Die Gefahr übermäßiger Identifikation besteht nicht, und wenn sich doch einmal Aggression einstellt, dann gegen die unerbittliche Frau Berg, die sich immer neue Gemeinheiten für den teddybärigen Toto ausdenkt. Etwa den Einbau einer radioaktiven Sonde in seine Gebärmutter, die ihn geradezu genüsslich an einer lange dauernden Leukämie krepieren lässt.

Auch das Glück, das die Erzählerin Toto kurz vor ihrem Tod – allein, im Heim und schwer auf Drogen – ob des Umstands gönnt, „dass sie kurz aufgetaucht ist aus der Großen Dunkelheit der Unendlichkeit“, hat nicht das letzte Wort in Sibylle Bergs gnadenloser Ausmerzung des Prinzips Hoffnung.

Das letzte Wort ist noch einmal ein Schlag in die Magengrube. Allerdings einer, der Toto nicht mehr trifft.

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