Die frühe Kindheit als Kolonialgebiet der Industriegesellschaft:: Eine ernste Sache

Auf der Hamburger Messe Babywelt lässt sich beobachten, wie die Bedeutung von Kindern übersteigert wird, wenn es kaum noch welche gibt.

Mit deutscher Gründlichkeit geführte Debatte: Vorn oder hinten, vorwärts oder rückwärts - der Puppe wird es jedenfalls nicht schaden. Bild: Ulrike Schmidt

HAMBURG taz| Unter der Treppe der Halle B 7 sitzen Mütter und wickeln und füttern. Drinnen gibt es eine „Wickeloase“ und eine „Still-Lounge“, aber warum schlecht gelaunt mit leerem Magen oder vollgeschissener Windel über die Messe tigern? Die Frage ist, ob die Organisatoren der „Babywelt – Die Messe rund um ihr Kind“, ihre Messe für eine Wüste halten, denn welchen Sinn hätte sonst eine Oase?

Die Geburtenrate in Deutschland lag 2011 bei 1,46 Geburten pro Frau, leichte Zunahme gegenüber 2010, und auch für 2012 wird damit gerechnet, dass die zweite Stelle hinter dem Komma, vielleicht ein großer Zeh, oder ein Ohr, wächst. Wahrscheinlich helfen unsere ausländischen Mitbürger den Zahlen ein wenig auf die Beine, was Menschen wie Sarrazin den apokalyptischen Angstschweiß auf die Stirn treibt.

Trotzdem sind das – auch im Vergleich mit anderen Industriegesellschaften – wenig Kinder, und wenn es wenig Kinder gibt, wächst die Bedeutung der wenigen.

Eine sanfte Giraffe und ein flauschiges Schäfchen, in denen Menschen stecken, gehen langsam durch die Gänge, und versuchen, die Kleinen nicht zu erschrecken. Sie winken wie die Teletubbies. Die Industriegesellschaft, das liegt in ihrer Logik, muss kolonialisieren.

Altersgruppen, die bislang von ihren Segnungen halbwegs verschont blieben, die ganz Alten und die ganz Jungen, werden ebenso erobert wie abgelegene Gebiete der Erde touristisch erschlossen werden. Und das geht erst mal immer so weiter.

So erleben wir auf der Babymesse, zehn Euro Eintritt für Erwachsene, die Industrialisierung der ersten Monate. Die Firma Pfizer, groß geworden durch Viagra, das wahrscheinlich einigen Männer zur Vaterschaft verholfen hat, die damit nicht mehr gerechnet haben, kümmert sich auch, das ist folgerichtig, um „Schwangere und Stillende, die mehr tun wollen“.

Die Kleinkinder in ihren schicken Wagen, von der Oma oder der Mama geschoben, machen das, was sie am besten können: schlafen; mit ihren Zehen spielen und gleichzeitig nach den Zähnen tasten, die, weil sie grade kommen, weh tun; die Fäuste ballen; große Augen machen; ein bisschen randalieren.

„Schon sechs Zähne“, erklärt eine Mutter, deren Sohn seine ganze Faust im Mund hat, „der siebte kommt gerade.“ Julian hat die Zunge zwischen der Faust und den sechs Zähnen und presst angestrengt Spucke durch die kleinen Lücken, die noch da sind.

Frauen mit weiß-blauen Slippern, deren Männer blond, gute Hockeyspieler und passable Segler waren, als sie noch 15 Kilo weniger hatten, schieben teure skandinavische Kinderwagen durch die Gänge. Die Klassenstruktur reicht bis in die Wiege.

Alle Kinder leben die Träume der Eltern aus, die die sich leisten können. Und ihre Albträume. Sie dürfen den ganzen Tag spielen und essen und schlafen, Socken mit Teddys tragen, die Erwachsenen regieren, alles in den Mund nehmen. Und mit jedem dahergelaufenen Erwachsenen flirten.

Ein kleines Mädchen, ihre dünnen Haare stehen in zwei Zöpfen vom Kopf weg, bläst in einen weißen Luftballon, drückt dann die Luft aus dem Ballon wieder in ihren Mund, wieder in den Ballon, wieder in den Mund. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, bietet sie mir ihren Luftballon an. So stiften Kinder Gesellschaft.

Hier gibt es viele Versicherungen, was dafür spricht, dass das Kinder kriegen eine ernste Sache ist und Eltern nun ein paar schwierige Fragen, Lebensversicherungen etwa, entscheiden müssen. Ein Stand mit Tragesystemen.

Es gibt ja eine mit der für uns Deutsche typischen Grundsätzlichkeit geführte Debatte um die Frage: Auf dem Rücken oder auf der Brust tragen? Und: Wohin soll der Säugling gucken? In die Welt hinaus, oder auf Mutter und Vater? Innerlichkeit, Weltabgewandtheit, oder Weltzugewandtheit? Da haben wir es mit tief religiösen Fragen zu tun. Der Hersteller auf der Messe hat ein System entwickelt, das alle Varianten zulässt: Rücken, Brust, Welt und Innerlichkeit. Kostet dann auch gleich 149 Euro.

Schaukeln. Maik Schwede hat eine Schaukel entwickelt, mit einem Motor und Federn, die kein Geräusch machen, die das Kind dauerhaft bewegen. Die Kinder werden nicht seekrank, versichert Schwede. Das erste Kind der Schwedes war ein Schreikind. „Wir waren seelische Wracks“, sagt Schwede, „krank, kaputt, am Ende.“ Wenn er abends heimkam, flüchtete die Frau, und er setzte sich mit dem Kind auf den Petziball. Alles andere hatten sie ausprobiert: Singen, Öl, Massage. Nur der Petziball half, das Schreien hörte auf, aber Schwede bekam Rückenschmerzen. Stundenlang Petziball. Und dann der Schlafentzug.

„Das Schaukeln ist das, was Mütter während der Schwangerschaft automatisch machen: ihr Kind wiegen“, sagt Kerstin Schwede. Maik Schwede baute die erste Schaukel für sein Schreikind. Nun hat er eine Firma, die hieß mal „Baby-Dreamer“, aber der Begriff war geschützt, und heißt nun, „Kemaly Swing2sleep“. Die Schwedes haben sich, nach dem Schreihals, für zwei weitere Kinder entschieden. Dank Wiege.

Zwei Säuglinge sitzen in einem Kinderwagen und beäugen sich misstrauisch. Etwa wie die Herren Müller-Lüdenscheid und Dr. Klöbner in Loriots Badewanne. Mausi, sechseinhalb Monate, und Malik, sieben. Malik ist ein Riese, die Kleinen stoßen mit den Füßen aneinander und wissen nicht, was sie miteinander anfangen sollen. Mia findet’s scheiße und quengelt.

Väter geben Fläschchen, Mütter haben Ringe unter den Augen, und es gibt Mamas, die zu ihrer Mama „Mama“ sagen. Es gibt Ökokleidung für Schwangere, für Säuglinge und Kinder, Drogerieartikel, Präparate für die Scheidenhygiene, Wiegen aus Holz, Spielsachen aus Holz, Badezusätze, Schnuller in allen Varianten, die Geschmacksrichtungen prägen fürs Leben. Manchmal steht eine Mutter an einem Stand und lässt sich beraten und streichelt Mikas noch ziemlich kahlen Kopf.

Dafür, dass hier ein lukrativer Markt schlummert, geht es ziemlich ruhig zu. Erst als von der Showbühne Musik erklingt, wackeln einige Windelträger mit dem Hintern. Zwei Jubelösterreicher versuchen besonders familienfreundliche Hotels in der Steiermark und sonstwo anzupreisen. Der Österreicher mit dem Mikro in der Hand erinnert in Haarfarbe mit Scheitel, Lederhose und schwarz behaartem Bein, an den Führer. Reden kann er nicht.

Auch der junge Mann im Anzug, der danach für die Firma Budnikowsky den Krabbel-Wettbewerb moderiert, ist in der Berufswelt das, was die Babys, die krabbeln, im Leben sind. Insoweit passt alles.

Am Rand der Bühne vergnügen sich Mia, acht Monate, und Florian, zehn Monate. Beide gut drauf. Florian streichelt Mias Kopf, und beide strecken die Köpfe zusammen. Florian weiß schon, wo er anfängt und Mia aufhört. Er ist vorsichtig. Da ist etwas vom Entstehen eines Ich, das sich von einem anderen Ich abgrenzt, und damit Gesellschaft, sichtbar.

Dann wird gekrabbelt. Es gibt eine Startlinie und ein Ziel. Aber die Kleinen, wie so oft, sind schlauer als die Großen, und krabbeln nicht alle. Manche bleiben sitzen, lachen und nehmen ihre Zehen in den Mund. Andere krabbeln in die falsche Richtung, hinter die Bühne. Dem Kind, das versucht, mit gezielten Schlägen die Pampers-Pyramide zum Einsturz zu bringen, sollten wir ein taz-Abo schenken.

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