Studie zum Netzverhalten von Jugendlichen: Online im Griff, offline außer Kontrolle

Jugendliche machen erste sexuelle Erfahrungen im Netz, weil sie alles unter Kontrolle wähnen. Eine Studie widerlegt das und sieht vielmehr einen dramatischen Steuerungsverlust.

Das Netz der ungeahnten Möglichkeiten - und Risiken. Bild: imago/McPhoto

Felix, 12, hat einen neuen Mitspieler im Netz gefunden. Bei einem Online-Game misst er sich gerade mit einem Spieler, der sich „Der Vergewaltiger“ nennt. Als Felix’ Eltern nachfragen, was denn Vergewaltiger für ein seltsamer Vogel sei, blafft der junge Kerl: „Glaubst du, ich bin so blöd und treff mich mit dem in der echten Welt? Solange ich hinter dem Bildschirm bleibe, habe ich alles im Griff.“

Alles im Griff – das ist die Formel, die auch andere Jugendliche als Felix wählen. Genauer: gewählt haben, als sie erste tastende Erfahrungen mit Sexualität im Netz machten. Leider endete die völlige Kontrolle für sie oft in totalem Kontrollverlust: Sie erleiden sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewaltigung – und sind dann gelähmt, weil sie mitansehen müssen, wie ihre Demütigung verbreitet wird. Denn sie waren die Opfer.

So ähnlich steht es in einem neuen Forschungsbericht, den die britische Missbrauchsexpertin Ethel Quayle heute bei einer international besetzten Konferenz in Berlin vorstellen wird. Der Bericht liegt der taz exklusiv vor. Die vielfache Buchautorin Quayle hat 20 Jugendliche, die im Internet ihre späteren Täter kennen lernten, nach den Erfahrungen ihres „riskanten Verhaltens im Netz“ befragt.

… heißt die Konferenz über das riskante Verhalten Jugendlicher im Netz, die am heutigen Mittwoch in Berlin beginnt und Forscher aus den Ostseestaaten und den USA zusammenbringt. Robert steht für „Risktaking Online Behaviour – Empowerment Through Research and Training“. Es bedeutet, Jugendliche in einem sicheren Netzverhalten durch Forschung und Bildung zu stärken. Bei der Konferenz werden zwei Studien vorgestellt: eine über jugendliche Opfer und Fokusgruppen, die der taz in Auszügen vorliegt. Und eine über die Strategien der Täter, wenn sie sich im Netz auf die Suche nach Jugendlichen machen. Diese Studie wird am Donnerstag von der Britin Ethel Quayle vorgestellt. Von deutscher Seite nehmen an der Konferenz eine Reihe von Missbrauchsexperten teil. Das für sexuelle Gewalt zuständige Familienministerium entsendet einen Abteilungsleiter – für einen Empfang. Inhaltlich beteiligt sich weder Ministerin Kristina Schröder (CDU) noch einer ihrer Staatssekretäre.

Riskantes Internetverhalten – so lautet der Titel der Konferenz, die bis Donnerstag dauert: „Riskantes Internetverhalten – Handlungskompetenz durch Forschung und Aus- und Weiterbildung“, englisch kurz ROBERT.

Risiken von sexuellen Kontakten im Netz

ROBERT hat Jugendliche aus Italien, Deutschland, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Estland und Russland untersucht. Die Ergebnisse der Studie aus der Feder von Ethel Quayle und anderen sind beachtlich. Sie zeigen über alle Ländergrenzen hinweg: Extrem viele Jugendliche knüpfen sexuelle Kontakte im Netz. Sie wähnen sich dabei in Sicherheit, weil sie die Spielregeln bestimmen – vermeintlich. Jugendliche, die einen Schritt zu weit gehen, verlieren aber oft mehr als beim Offline-Missbrauch: Denn der Täter veröffentlicht notfalls alles weltweit.

„Er hat angefangen, mir zu drohen“, berichtete eines der Opfer in der Studie. „Er zog sein Handy aus der Tasche und zeigte mir die kleinen Videos, die er gemacht hatte, als er mich missbrauchte. Und er sagte dann so etwas wie: ’So, wo zum Teufel, willst du denn hingehen? Wenn du mich verlässt, dann zeige ich das Zeug hier jedem, dann stelle ich das ins Internet – und die Leute können auf dich spucken.‘“

Die Erfahrungen des Mädchens waren furchtbar. Sie sind nicht für alle jugendlichen Netzerkunder verallgemeinerbar. Dennoch sind Ethel Quayles Gespräche eine wichtige empirische Basis für die Analyse des sich beständig ändernden Verhaltens Jugendlicher im Netz.

Konferenz über Ursachen von Missbrauch

„Junge Leute wachsen heute in einer technologieorientierten Welt auf. Sie bringt ihnen beinahe unbegrenzten Zugang zu Spielen, Musik und Film, nicht zu erwähnen die enorme Bandbreite von Kontakten mit anderen Jugendlichen, die ihnen das Netz ermöglicht“, schreibt der Konferenz-Organisator Lars Lööf von der „Direktion Kinder“ des Rats der Ostseestaaten. „Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Jugendlichen, die vor einer Generation unvorstellbar waren.“

Dennoch fallen manche von ihnen Missbrauch und Gewalt zum Opfer. Ziel der Konferenz ist es, so Lööf, herauszufinden, „wie die gefährlichen Kontakte im Netz genau entstanden sind und was dazu führt, dass die Jugendlichen sie trotz ihres hochsexuellen Inhaltes aufrechterhalten“.

An der Konferenz nehmen die international besten Kenner des Feldes teil, etwa Sharon W. Cooper von der Universität Chapel Hill (North Carolina), die über ethische Dilemmata bei Gewalt im Internet spricht. Aus Deutschland wird unter anderem Christian Bahls vom Verein Mogis, Stefanie Rack von „Klicksafe“ und Iris Hölling von Wildwasser Berlin vortragen.

Doppelgesichtige Steuerungskompetenz

Was die Forscher und Praktiker umtreibt, ist die Doppelgesichtigkeit der scheinbaren Steuerungskompetenz der Jugendlichen. „Hör mal, wenn es nicht passt, dann verpiss dich!“, erinnert eines der Opfer seine anfängliche Einstellung. „Ich war immer die mit der Kontrolle und habe die Kerle beinahe herumgeschubst.“ Allerdings beobachten die Forscher einen Übergang. Solange die Jugendlichen hinter dem Bildschirm verharren, können sie Nein sagen.

Freilich sind die Täterstrategien vielfältig und die Neugier der Jugendlichen groß – es ist ihnen klar, dass es auch um Sex geht. Sie wollen diese Erfahrungen machen, sie wissen oft nur nicht, wer sich hinter ihrem Chatpartner wirklich versteckt.

Der ultimative Umschlagpunkt ist das Treffen. Wenn der Gegenüber ein Täter ist, kann es sein, dass ein Nein dann nichts mehr gilt. „Es war nicht sehr schön, dazuliegen und nachzudenken, als er es zu tun begann“, erinnert sich ein Mädchen. Ein anderes Mädchen sagte den ROBERT-Forschern: „Es war, als wären wir ein Paar. Aber vielleicht willst du deinen ersten Sex nicht so haben – als würdest du mit einem Auto zusammenstoßen.“

Risikogruppen

Die ROBERT-Forschung stimmt auf grausame Weise mit der Realität überein. Dieser Tage stand ein junger Mann in Bayreuth vor Gericht, der über Facebook näheren Kontakt zu einer 13-Jährigen schloss. Er verabredete sich online mit ihr zu einem Kinobesuch. Dort zwang er sie in den hinteren Reihen während des Films zum Oralverkehr. Vor Gericht sagte der 27-Jährige, er habe lediglich sanften Druck angewendet: „Ich hatte den Eindruck, sie macht mit.“ Das Mädchen hingegen sagte aus, sie sei starr vor Schreck gewesen – und habe die Handlungen des Mannes aus Angst über sich ergehen lassen.

Was der Forschungsbericht von ROBERT zeigt, ist der dramatische Steuerungsverlust, den Jugendliche auf ihren Suchbewegungen im Netz erleiden – auch (oder weil?) sie sich zunächst als sichere Piloten im Cyberspace wähnen. Die Jugendlichen selbst erkennen aber ihre eigene Gefährdung oft nicht – sie zeigen meistens mit dem Finger auf die anderen Risikogruppen:

* Mädchen sind in der Einschätzung der Jugendlichen häufiger gefährdet als Jungen.

* Jüngere gelten als gefährdeter als ältere Kinder.

* Das Risiko hängt auch vom Selbstbewusstsein bzw. der Selbstsicherheit der jugendlichen Nutzer ab.

Je geringer das Selbstbewusstsein, desto größer das Risiko, heißt es in dem Papier, das der taz vorliegt. Schutz bieten laut der Jugendlichen Eltern oder erwachsene Vertrauenspersonen, die a) den Zugang zum Netz regulieren und b) hilfreiche Ansprechpartner sind, wenn Jugendliche in Not geraten sind.

Das ist ein wichtiger Hinweis für die ROBERT-Forscher – und zugleich ihre größte Herausforderung. Denn die Besonderheit der Kommunikation im Netz liegt darin, dass sie im Prinzip nicht vergänglich ist. Und sie ist obendrein unendlich oft reproduzierbar. Das gilt für das geschriebene Wort genau wie für das Foto und den Film. Diese Dimension ist schon für Erwachsene kaum vorstellbar. „Wie sollen Kinder und Jugendliche sie dann erahnen und den möglichen absoluten Kontrollverlust wirklich begreifen können?“, heißt es in der Pressemitteilung zur ROBERT-Konferenz. „Wie sollen sie verstehen, dass ihre sexy Sprüche oder Fotos benutzt werden, um sie vor der ganzen Welt zu blamieren und bloßzustellen? Oder aber zu behaupten, sie hätten den Missbrauch doch gewollt?“

Trend „Sexploitation“

Die US-Forscherin Sharon Cooper, die am Donnerstag berichten wird, hat für das, was bei den sexuellen Suchbewegungen im Netz geschehen kann, einen Begriff geprägt: Sexploitation. Was sie beobachtet ist, dass es darüber hinaus einen verstärkenden Einfluss durch die Normalisierung sexueller Attacken in der Musik, in Videos, Mode, Werbung und Literatur gibt.

Für die Jugendlichen, die im Netz unterwegs sind, ist das alles irgendwie normal. „Für mich gibt es zwei Seiten des Netzes“, sagte eine der Betroffenen in der ROBERT-Studie. „Die eine ist Facebook und meine Freunde. Und dann ist da auch die andere Seite des Internets – die mit den vielen Männern.“

Und manchmal nennen sie sich einfach „Vergewaltiger“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.