Mit Stock und Smartphone: Ein Blindflug um die halbe Welt

Der Hamburger Robert Sandberg ist seit 39 Jahren blind. Das hat ihn nicht daran gehindert, allein an einsame Strände zu fahren.

Navigationsinstrument 1.0: Blindenstock. Bild: dpa

HAMBURG taz | Die kleine weiße Plastikkugel hat unzählige Schrammen. Unaufhörlich rollt sie über den Boden. Sie knallt gegen Bordsteinkanten, gegen Häuserfassaden, Füße, Aufsteller, Fahrräder, Stuhl- und Tischbeine. Gegen fast alles. Robert Sandberg schiebt die Kugel an, mit einem langen Teleskop-Stock. Ohne die Kugel und den Stock wäre der 42-jährige Hamburger aufgeschmissen. Er ist seit 39 Jahren blind. Und der Teleskop-Stock mit der Kugel ist sein Blindenstock.

Robert Sandberg, den alle immer nur Robbie nennen, sitzt in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel neben einem Bob Dylan-Poster und nippt an einem Glas naturtrüben Apfelsafts. Die Wohnung ist voll mit Souvenirs seiner Reisen: Fotos, Aschenbecher, Holzschnitzereien, ein kleines Segelschiff in einer Glasflasche. Robbie war allein in Indien, Nordamerika und Skandinavien. Er lebte fünf Jahre in Dublin. Über dem Sofa hängt ein Rechteck aus durchsichtigem Plastik, auf dem mit Fenster-Malfarbe die Nordküste des europäischen Festlands nachvollzogen ist. Robbie kann die Küste zwar nicht sehen, aber spüren. „Das haben mir meine Freunde vom Segeln gemacht. Dann kann ich auch ein bisschen mit navigieren“, sagt er und zieht an seiner selbst gedrehten Zigarette.

Navigieren muss Robbie mehr als die meisten Menschen. Als er noch in Dublin gelebt hat, war er oft auf den menschenleeren irischen Inseln unterwegs. Eine Software für sein Smartphone hat ihm das möglich gemacht: Loadstone. Mit dem App lassen sich „elektronische Brotkrümel“ legen. Wegpunkte, die Robbie dann durch die Sprachausgabe des Handys zurückverfolgen kann. „Wenn ich einen Strand betrete, dann muss ich ja auch wissen, an welcher Stelle. Sonst finde ich ja gar nicht mehr zurück“, erklärt Robbie. Auf einem Strand bringen ihn weder akustische Signale noch sein Blindenstock weiter. „Ohne das GPS wäre das gar nicht möglich.“

Die Kugel rollt wieder. Robbie ist in Eimsbüttel unterwegs. Manchmal haut er sie mit einer pendelnden Bewegung auf den Asphalt: Der Schall reflektiert. Oft glauben ihm die Leute nicht, dass er Wände hören kann. „Dann sag’ ich immer: ,Du kannst doch auch die Wand sehen, obwohl sie kein Licht macht.‘ Schall und Licht, das funktioniert ja gleich“, sagt Robbie. Es ist nicht einfach Schritt zu halten. Robbie ist schnell, in seinem Kiez kennt er sich aus. „Hier auf der rechten Seite siehst du das stadtbekannte indische Restaurant“, sagt er.

Pinnwand mit Trophäen

In Mobilitätstrainings lernen Blinde, sich in ihrer Umgebung zu orientieren. Ein Trainer zeigt ihnen die wichtigsten Anhaltspunkte: wo was zu finden ist, und wo sie achtgeben müssen. Robbie braucht kein Mobilitätstraining mehr. „Wenn ich wissen will, wo was ist, dann frag’ ich meine Freunde oder meine Mutter. Oder ich geh’ einfach in die nächste Kneipe und lass’ mir das erklären.“

Robbie serviert schwarzen Tee und nippt. „Ja, Earl Grey, den mag ich gern“, sagt er zufrieden. Die Fensterbank rechts neben ihm steht voller Blumen. Ein bisschen Erde ist auf der Fensterbank gelandet. Eine zwei Meter lange und einen Meter hohe Pinnwand hängt neben dem Eingang zur Küche. Sie ist mit Konzertkarten tapeziert – Pink Floyd, The Rolling Stones, Motorpsycho, Deep Purple. „Das sind Trophäen“, sagt Robbie und grinst. Einmal, auf einem der Konzerte, habe ihn jemand von hinten auf die Schultern genommen – ohne Vorwarnung. „Ich hatte meinen Blindenstock immer noch in der Hand und wir sind dann beide zusammen umgefallen“, sagt Robbie.

Auf einem der größten europäischen Bluesfestivals im norwegischen Notodden hat er einmal erlebt, wie es ist, wenn man die Orientierung verliert. Er ist einen Tag länger auf dem Festival geblieben als die meisten Besucher. Vorher orientierte er sich noch an LKW und anderen Zelten, die auf dem weiträumigen Gelände standen. Mit der Musik wichen jedoch auch die Besucher und damit die Orientierungspunkte. „Ich wusste, dass mein Zelt ungefähr 50 Meter von den Dixie-Klos entfernt steht“, erzählt Robbie. Also hat er sich mit dem Rücken zu den Klos gestellt, seinen Blindenstock in beide Hände genommen, und ist, den Stock vor sich her schwingend, in die Weite gestapft. „Das muss man sich mal vorstellen. Wie das wohl ausgesehen hat“, sagt Robbie und lacht. Fünf Mal musste er das machen, dann hatte er sein Ein-Mann-Zelt wieder gefunden.

Robbie hat zwölf Jahre als Telefonist gearbeitet. Früher gab es wenige Berufe, die Blinde machen konnten. Erst in den 80ern kamen mit dem Einzug des Computers neue Möglichkeiten, und auch Robbie arbeitet inzwischen mit Computern. Fünf Jahre hat er in Dublin Kunden der Software-Firma SAP betreut. Seitdem er wieder in Hamburg ist, gibt er Computer-Kurse. Für Blinde, versteht sich.

Heute unterrichtet Robbie Pascal. Als Robbie in das Lehrerzimmer der Heinrich-Hertz-Schule kommt, hört der 13-Jährige die St. Pauli-Hymne. Auch der Hintergrund seines Laptop-Bildschirms ist in den Vereinsfarben gehalten. Robbie setzt sich neben ihn und greift zuerst in die Porzellan-Schale, die vor ihnen steht. „Ach! Sind das diese Lakritzschnecken? Die mag ich überhaupt nicht“, sagt er. Pascal ist nicht vollends blind. „Ich habe einen Tunnelblick“, sagt er. Durch die dicken Gläser seiner Brille nehmen seine hellblauen Augen eine bizarre Größe an. Die blauen Nike-Turnschuhe passen farblich zu den Socken und zum Pullover.

E-Mails verschicken steht heute auf dem Programm. Die mechanische Frauenstimme der Sprachausgabe für Blinde spricht ins Leere. Robbie und Pascal scheinen sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie wissen, wann sie zuhören müssen. Die Stimme liest Zeile für Zeile vor. Eine zusätzliche Tastatur, die sogenannte Braillezeile, hilft Robbie und Pascal, sich auf dem Bildschirm zu orientieren. Die Braillezeile übersetzt die Schrift auf dem Bildschirm in Blindenschrift, mit ihren Richtungstasten wählen Robbie und Pascal auf dem Bildschirm die Elemente aus.

In der Heinrich-Hertz-Schule geht Pascal in eine Klasse mit „Sehenden“. So oft er kann, geht er ins Stadion. „20 Mal bin ich schon dagewesen“, erzählt er. Karten seien kein Problem. „Ich krieg’ Karten für die Hör-Plätze. Die sind leichter zu bekommen und kosten auch nur zehn Euro.“ Viele komplizierte Tastenkürzel muss er kennen, um den Computer zu bedienen. Schnell fliegen seine Finger über die Tastatur. In eineinhalb Stunden erklärt ihm Robbie die Grundzüge des Office-Mailprogramms. Dann nehmen beide ihren Blindenstock und gehen getrennte Wege. Pascal nimmt den Bus. Robbie die Bahn.

Schnurstracks läuft Robbie durch die U-Bahnstation Borgweg im Hamburger Stadtteil Winterhude. Die komplizierten S- und U-Bahnhöfe kennt er in- und auswendig. Verschiedene Bodenbeläge bieten ihm Orientierung. Die Rillen auf den Fliesen sind extra für Blinde eingerichtet worden.

Robbie schiebt seinen Blindenstock vor sich her. Ein Blindenhund komme für ihn nicht infrage, sagt er. „Ich kann Hunde nicht ausstehen. Außerdem kann ich mich gut selbst orientieren und möchte nicht von einem Vierbeiner abhängig sein.“ Blinde Hundehalter orientierten sich an völlig anderen Punkten als Blinde, die sich mit dem Stock zurechtfinden, sagt Robbie. Ein Treffen müsse darum minutiös geplant werden.

Falsche Straße

Richtig verlaufen hat er sich noch nie. „Ich verlaufe mich nicht häufiger als sehende Menschen“, sagt er. Hin und wieder biegt er in die falsche Straße ein. „Dann verfolge ich einfach den Weg zurück.“

Einmal ist ihm allerdings jemand mit dem Fahrrad über seinen Blindenstock gefahren. Der Stock ist durchgebrochen. Wie eine Angel hat er dann den Stock immer wieder auf dem Boden aufkommen lassen und so nach Hause gefunden. Zum Glück sei es bekanntes Terrain gewesen. „Ohne meinen Blindenstock“, sagt Robbie, „bin ich erst mal aufgeschmissen.“

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