Genossen machen die taz: Was vom guten Leben übrig blieb

Nur ein Normenkatalog hat es in die demokratische Moderne geschafft: die Gesundheitslehre. Doch die klingt heute oft nach Besserwisserei und Bevormundung.

Rohkost – nur etwas für Gesundheits-„Streber“? Bild: dapd

HALLE/WITTENBERG taz | Von allen Lehren, die das gute Leben minutiös anleiten wollen, ist in Europa eigentlich nur eine übrig geblieben. Sie ist seit 2.400 Jahren in den Schriften der Wanderärzte von der Insel Kos, im corpus hippocraticum, angelegt. Sie enthalten die Gesundheitslehre.

Viele Jahrhunderte lang spielte die Diätetik neben den anderen Lehren vom guten Leben – den religiösen wie politischen – eher eine zweite Geige. Doch nun haben sich die anderen zurückgezogen, an Glanz verloren. Es gibt in modernen Demokratien keine andere allgemein akzeptierte detaillierte Lehre vom guten Leben mehr als die, sich gesund zu erhalten.

Wie viel Leid und Kosten zu vermeiden wären, wenn Prävention geübt würde, statt erst die aufgetretenen Krankheiten zu bekämpfen, hat sich nun herumgesprochen. Doch stehen die Agenten der public health vor der Herausforderung durch die bürgerliche Autonomie. Niemand weiß besser als sie, dass die Chancen auf Gesundheit der sozialen Schicht zugeordnet sind, jeder Gehaltssprung auch einen Sprung in den Gesundheitschancen darstellt. Doch sehen gerade diejenigen mit den geringsten materiellen Chancen ihren oft so ungesunden Lebensstil als einzige Form der Selbstentfaltung.

Die Differenz schon zu den „Strebern“ in der Schule wird dabei nicht einfach als Mangel begriffen, sondern positiv gewendet als eigene Entscheidung für einen anderen, risikoreicheren, aber auch attraktiveren Lebensstil als den der Streber. Daher klingt jede pflegerische gesundheitsförderliche Unterstützung schnell wie ein Rat der volksversittlichenden Bildungsbürger Richtung unten: wie Besserwisserei und Bevormundung.

62, Pflegewissenschaftler aus Halle, taz-Unterstützer seit Gründung.

Nur eines eröffnet deshalb Chancen: der respektierende Bezug auf die Lebenspraxis. Diesen aber können die Pflegenden nur in ihrer Profession üben, nicht als Gesundheitsapostel. Die Gesundheits- und KrankenpflegerInnen klären gemeinsam mit ihren je einzigartigen Klienten aus ihren je eigenen Erfahrungen deren Ziele und Chancen auf ein gutes und gesundes Leben. Nur wer mit den Menschen selbst deren Lebenswelt zur Sprache bringt, kann ihrer Gesundheit dienen.

Dies ist ein Text aus der Sonderausgabe „Genossen-taz“, die am 14. April erscheint. Die komplette Ausgabe bekommen Sie am Samstag an Ihrem Kiosk oder am eKiosk auf taz.de.

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