Installation im Hamburger Ernst Barlach Haus: Der ganz weite Kunstbegriff

Das Hamburger Ernst Barlach Haus, ein ansonsten eher konservatives Museum, irritiert plötzlich mit neuester Interventionskunst vom Stuttgarter Georg Winter.

Feuerwehrübung im Barlach Haus: Georg Winters „Rückfallobjekt (Satellitentrümmer)“. Bild: Andreas Weiss

HAMBURG taz | Es sieht nach einem Desaster aus, seit Wochen schon. Noch ist das gläserne Dach über dem Innenhof nur notdürftig gedichtet und abgestützt. Noch sind "Der Geistkämpfer" und "Lehrender Christus" - die dem Einschlag nächsten Skulpturen von Ernst Barlach - vorsichtshalber mit wattierten Rettungsmänteln geschützt. Die Notsicherung musste nach der Katastrophe erst einmal beibehalten werden. Was ungeahnte Reize entfaltet: Es ist ja äußerst selten, dass Weltraumschrott in einem Museum einschlägt.

Überall liegen Rettungsutensilien herum. Kabel und Kameras sind ebenfalls vor Ort. Dass auch eine mobile Sanitätsstation noch hier ist, scheint allerdings etwas übervorsichtig. Am Tresen des Hauses liegen Broschüren der "Freiwilligen Feuerwehr" aus - seltsam, ist all das doch nur eine Übung?

Die Feuerwehr war tatsächlich bei dieser Aktion im Museum dabei. Doch das Ganze ist weniger ein Unfalleinsatz als eine ästhetische Übung in der Praxis des von Joseph Beuys erstmals so erweiterten Kunstbegriffs: Verantwortlich für die Intervention ist der Stuttgarter Künstler Georg Winter. Er hat eine Professur für Bildhauerei und "Public Art" an der Hochschule der bildenden Künste Saar und ein Studio in der Handwerkergasse der eindrucksvollen technischen Weltkulturerbestätte Völklinger Hütte bei Saarbrücken.

Der 49-Jährige zählt mit seinen Großperformances zu den wichtigsten Aktivisten der raumbezogenen Experimentalkunst: "Ich beschäftige mich mit der Konzeption und Herstellung von Störungen in Betriebssystemen, wie auch mit der Reflexion und Behebung von Störungen in Betriebssystemen", sagt Winter selbst. Mitten in Essen hat Winter schon ein Gebäude einstürzen lassen, in München verwickelte er eine Demonstration in eine Konfrontation mit einer gleichfalls selbst organisierten Gegendemonstration, bis die Polizei eingriff.

Sind von jenen Aktionen hier im kleinen Kinoraum die Dokumentationen zu sehen, ist das Hamburger Ernst Barlach Haus besonders geeignet, die Weiterentwicklung des Skulpturenbegriffs zu demonstrieren: Mit seiner speziell gefertigten Verpackung der beiden Bronzen im Innenhof knüpft Winter formal an die sozial engagierte Einzelplastik Barlachs an und führt dann über die installative Erweiterung zur skulptur-räumlichen Sicht auf strukturelle, weit aus dem Museum herausführende Zusammenhänge.

Auch wenn die Störung im Museum systemnotwendig selbst museal wird, ist es doch ergiebig, am Schutzort der Kulturgüter über die übrigen Schutzsysteme der Gesellschaft nachzudenken, ihre selbstverständlich vorausgesetzte Präsenz und ihre gelegentliche Übertreibung.

Wenn Kunst und Leben sich derart eigenartig vermischen, sind auch die oft irrwitzigen Warnungen, wie sie in der angelsächsischen Welt üblich geworden sind, nicht mehr fern: Neben der "Der Berserker" betitelten bronzenen Skulptur eines wütenden Schwertkämpfers liegen also vorsichtshalber Schlagschutz und Knieschoner, Zimtlatschen und eine Trage. Das passt zwar ins Konzept, ist als Kunst aber nun doch etwas kalauernd - sollten doch die meisten inzwischen verstanden haben, und seis mit Bedauern, dass von Kunstwerken keine direkte Gefahr ausgeht.

Das weiß auch Georg Winter. So denkt er die Medialisierung seiner Kunst gleich mit. Schon 1992 gründete er das Büro Ukiyo Camera Systems (UCS), ein Entwicklungsbüro für Kameratechnik und Neue Medien, in dem Geräte der Video-, Film- und TV-Technik entwickelt wurden. Auch bei der nun als Unfallereignis inszenierten Intervention sind Kameras und Bildschirme im Einsatz. Allein - sie sind ganz schwarz, sie sind nur maßstabsgenaue Holzkörper.

Die im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs zur medialen Vernetzung notwendigen Geräte sind nun keine kommunikativen elektronischen Erweiterungen der Künste mehr, sie sind hier ganz entschleunigtes Ding, im traditionellen Sinne wieder Skulpturen. Und vielleicht sollten auch manche der scheinbar so praktischen Zivilschutzutensilien in dieser Ausstellung eher nicht in ihrer möglichen Funktion, sondern als Plastiken gesehen werden. Kunst und Leben - sie bleiben bei Georg Winter gegenseitig doppeldeutig.

Für sportliche Besucher ist es auch möglich, eine Übungseinheit zu nutzen und unter Anleitung der Aufsicht Rettungssprünge zu absolvieren - mit einem Skulpturmodell im Arm, immerhin ist das hier ein Museum. Und in dem Fall, dass sich irgendwer über diese, noch bis zum Januar zu erlebende Neuorientierung des Museums im idyllisch schönen Jenischpark - oder den erweiterten Kunstbegriff an sich - aufregt, dass seine Gesundheit gefährdet ist: Die ambulante Rettungsstation mit ihren Entspannungsliegen ist weiterhin nutzbar, die ganze Ausstellungszeit hindurch.

Einen realen Kern hat die inszenierte Katastrophensituation übrigens: In rund 400 Einzelereignissen treten jährlich mehr als 60 Tonnen Weltraumschrott wieder in die Erdatmosphäre ein. Ende Oktober ist gerade erst der deutsche Forschungssatellit Rosat unkontrolliert abgestürzt. Die Chance, von solch einem Rückfallobjekt getroffen zu werden, ist - wie bei einem Lottogewinn - verschwindend klein.

bis 8. 1. 2012, Hamburg, Ernst Barlach Haus
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