Andrea Hünnigers Buch "Das Paradies": Second-Hand-Erinnerungen

Die heute 25-Jährigen sind noch in der DDR geboren, kennen sie aber nur aus Erzählungen ihrer Eltern – die oft schwiegen. Wie im autobiografischem Roman "Das Paradies".

Schreibt mit burschikosem Subjektivismus: Andrea Hanna Hünniger. Bild: Tobias Kruse/Klett-Cotta

An einem Sommertag des Jahres 1990 betritt der Vater das Kinderzimmer, nimmt den Globus aus dem Regal, tritt die Pappkugel mit dem Fuß kaputt, stopft sie in den Kohleofen und zündet sie an. "Es gibt Dinge", sagt er, "die nicht zusammengehören." Da lag die DDR soeben in ihren letzten Zügen und angeblich wuchs endlich zusammen, was zusammengehört.

Dass nicht alle das so gesehen haben, versteht sich. Andrea Hanna Hünniger ist Jahrgang 1984, geboren in Weimar, aufgewachsen ebendort in einer Plattenbausiedlung. Auf der anderen Seite der Bahnlinie lag eine ausgedehnte Schrebergartenlandschaft (die mittlerweile durch den Bau von Gewerbegebieten geschrumpft ist): das Paradies, das Hünnigers Buch seinen mindestens sarkastischen Titel gibt.

Es birgt ein großes Risiko, die eigene Biografie paradigmatisch als Generationenerfahrung erzählen zu wollen. Die Gefahr besteht, das eigene Erleben einem kollektivierten Wir unterzuordnen und mithin in ein unechtes Sprechen hineinzugeraten, das eine Haltung, aber kein Leben darzustellen vermag.

Dieser Gefahr entgeht Andrea Hanna Hünniger, die als Autorin für die Zeit schreibt, indem sie als Grundstimmung eine Art von burschikosem Subjektivismus pflegt, der es ihr erlaubt, innerhalb der einzelnen Kapitel die Stillagen beliebig zu wechseln – die reichen vom Popjournalistentonfall über die Kinderperspektive bis hin zu Passagen von essayistischer Distanz.

Heimatlose Zwischengeneration

Der Nukleus, um den das Buch kreist, ist bemerkenswert: Hünniger erzählt von sich und ihren Altersgenossen als einer Zwischengeneration, der die DDR nicht mehr und die Berliner Republik noch nicht Heimat werden konnte. Von außen zwanghaft in eine Ossi-Identität gepresst, kennt diese Generation die DDR lediglich als eine Erinnerung aus zweiter Hand; aus Erzählungen der Eltern und Onkel, über deren mentalen (und körperlichen) Zustand Hünniger nur Deprimierendes zu berichten weiß.

Die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten ist gefallen; stattdessen hat sich eine unsichtbare Wand zwischen Kindern und Eltern aufgebaut. Eine Grauzone im vermeintlich eigenen Land, über das man nichts zu sagen hat. Wo dezidiert westdeutsch sozialisierte Jugendliche zu Autoren heranwachsen konnten, denen das bestens erhaltene Archiv einer heilen kapitalistischen Welt zur Verfügung steht, wurde im Osten der Fundus wahlweise geplündert und nostalgisch verramscht oder gleich verbrannt. Das sind die beiden Antriebe für ein solches Buch: die Wut und die Gewissheit, nichts anderes als sich selbst zu haben.

Hünniger erzählt von jungen Menschen, die sich der Neonazi-Ästhetik verschreiben, weil es keinen einfacheren Weg gibt, um sich eine Identität anzuschaffen. Sie erzählt von ersten Drogenerfahrungen, von Rebellion und dem Unverständnis gegenüber dem, was da gerade geschieht.

Die große Auslöschung, die große Leere

Über alldem aber steht die große Auslöschung in den Köpfen. Und das Gefühl der Leere, das zurückbleibt: "Ich teile mit vielen jungen Ostdeutschen die Erziehung durch melancholische, ja depressive, eingeknickte, krumme, enttäuschte, beschämte, schweigende Eltern und Lehrer." Allen voran die eigenen Eltern, überzeugte Sozialisten, die wiederum ihrerseits nur den Sozialismus kannten und sonst nichts; beide Akademiker, nach der Wiedervereinigung entweder auf eine ABM-Stelle (wie die Mutter) oder vor den Videorekorder in die eigene Wohnung abgeschoben (wie der Vater).

Der Vater ist die beeindruckendste Figur des ganzen Buches; allerdings kann Hünniger von der tiefen Erschütterung dieses Mannes nur erzählen, indem sie sie gleichzeitig wenig überzeugenden Pointen ausliefert. Sowieso wählt die Autorin ein wenig zu oft das nächstliegende Bild.

Wenn sie, wie es an manchen Stellen wirkt, mit der Darstellung ihres eigenen Lebens überfordert ist, flieht sie in Redundanzen, die aufmüpfig und keck klingen sollen: "Das Volkshaus ist auf einem Hügel gebaut. Warum auch immer." Warum eigentlich nicht? Hinzu kommt historische Naivität ("Neulich sagte jemand, dass es in der Bundesrepublik noch in den Sechzigerjahren Schulatlanten gab, in denen die DDR ,Mitteldeutschland' hieß").

Am Ende wirkt "Das Paradies" weniger konzentriert als in den ersten Kapiteln und nimmt uns schließlich tatsächlich mit in die Psychiatrie. Darauf läuft es letztendlich hinaus: auf ein langes Therapiegespräch, dessen erklärtes Ziel die Befreiung von einer fremdbestimmten Identität ist; die Ablösung von einer DDR, von der die ganze Welt eine Vorstellung zu haben scheint – außer denjenigen, die dort geboren wurden. Ein wütender Kampf um Würde, der ein wenig zu demonstrativ hinter der trotzigen Attitüde von Coolness verschwindet.

Andrea Hanna Hünniger: "Das Paradies". Tropen bei Klett-Cotta, 216 Seiten, 17,95 Euro.

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