Wissenschaftler über Krawalle in England: "Arbeiter zahlen für die Gier anderer"

Der Konflikt hat mit Klasse und Rasse zu tun: Der Erziehungswissenschaftler Augustine "Gus" John über soziale und ethnische Dimensionen der Krawalle in England.

Klassenunterschiede haben bei den Krawallen eine Rolle gespielt, sagt Augustine "Gus" John. Bild: ap

taz: Herr John, Premierminister David Cameron verlangt von den Gerichten abschreckende Urteile, Innenministerin Theresa May brüstet sich damit, der Polizei ein härteres Vorgehen verordnet zu haben. Ist das die Lösung?

Augustine John: Im Gegenteil, es macht mir Sorgen. Denn die jungen Leute hatten ganz verschiedene Gründe, an den Krawallen teilzunehmen, und viele sind ja nur zufällig dazugestoßen oder haben aus Opportunismus mitgemacht. Doch laut Gesetz werden alle gleichermaßen als Täter behandelt - egal ob jemand ein Feuer gelegt hat oder nur in einer Gruppe war, die dabei zugeschaut hat. Jetzt werden wohl junge Menschen im Gefängnis landen.

Was sollte man sonst tun?

Besser wäre es, wenn die Gerichte den Weg der restaurativen, also opferorientierten Justiz gehen würden, statt Gefängnisstrafen zu verhängen. Man sollte die Täter mit den Opfern zusammenbringen und sie zwingen, sich mit den Konsequenzen ihres Handelns auseinanderzusetzen.

Waren die Krawalle vorhersehbar?

66, ist Gastprofessor am Bildungsinstitut der Universität London und war Berater von Bürgermeister Boris Johnson.

Die Bedingungen sind ja dieselben wie bei den Krawalle in Brixton und anderswo, die sich gerade zum 30. Mal gejährt haben. Schwarze Jugendliche werden immer noch viel häufiger als weiße von der Polizei auf der Straße angehalten und durchsucht. Mindestens 95 Prozent von ihnen haben nichts mit Kriminalität zu tun, aber sie werden schikaniert und misshandelt.

Es geht also um einen ethnischen Konflikt?

Der Konflikt hat mit Rasse zu tun, aber auch mit Klasse: Schwarze Jugendliche sind oft in der Schule schlechter und häufiger arbeitslos. Das hat auch damit zu tun, wie die Gesellschaft diese Jugendlichen sieht. Wenn man sie als Abschaum betrachtet, benehmen sie sich irgendwann so.

Wie kann man verhindern, dass sich das wiederholt?

Es ist jetzt dringlicher denn je, eine Art Volksuntersuchung in die Wege zu leiten, die sich auf den schwarzen Bevölkerungsteil konzentriert. Dieses Thema betrifft die Gesellschaft als Ganzes, es betrifft die Sozialisation junger Menschen und deren Teilnahme am wirtschaftlichen Leben, und es betrifft die Sicherheit und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es muss etwas in der Bildung und beim Angebot von Jobs und Lehrstellen geschehen.

Sind die Krawalle auch eine Reaktion auf das Verhalten der Mächtigen?

Ja. Das Wenige, das diese jungen Leute hatten, wurde ihnen von Cameron im Zuge der Kürzungen wegen der Schuldenkrise weggenommen. Zugleich greifen die Banker weiterhin Bonuszahlungen ab. Die Arbeiterklasse zahlt für die Gier anderer.

Auch die Gier der Politiker?

Ja. Denn die Krawalle sind zwar nicht akzeptabel, aber die Politiker spielen sich als moralische Instanzen auf, betrügen aber selbst bei Spesenabrechnungen. Und die Polizei fasst sie mit Samthandschuhen an. Sie ruft bei den betreffenden Politikern an und bittet sie, auf dem Revier vorbeizuschauen, während die Beamten bei vermeintlichen Plünderern zu zehnt in Kampfanzügen anrücken und die Tür eintreten.

Cameron will eine Untersuchung über Jugendbanden in Auftrag geben. Welche Rolle haben die gespielt?

Höchstens eine indirekte. Die Banden haben einen Waffenstillstand geschlossen, um gemeinsame Sache gegen den Feind zu machen, die Polizei. Aber mindestens drei Viertel derer, die bei den Krawallen mitgemacht haben, gehören keiner Bande an. Wenn Cameron über Banden redet, kommt nur verbaler Dünnpfiff dabei heraus.

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