Pro & Contra: Sind Berliner Geschichtsbanausen?

Zehn Prozent der Berlin finden, dass der Mauerbau aus damaliger Sicht nötig war. Eine erschreckend hohe Zahl, meint Nina Apin. Zehn Prozent sind gar nichts, entgegnet Gereon Asmuth.

Über Nacht wurde sie hochgezogen und trennte 28 Jahre lang ein Land, das zu zwei Staaten geworden war. Die Machthaber der DDR rechtfertigten sich für den Bau des "antiimperialistischen Schutzwalls" - er sollte den Staat vor Massenabwanderung und schädlichen Wirtschaftseinflüssen schützen. 22 Jahre nachdem die Zwangsbegrenzung endlich Geschichte ist, haben viele Berliner Verständnis für die Logik der SED: 10 Prozent finden den Mauerbau laut Forsa-Umfrage "nötig und gerechtfertigt", 25 Prozent "teilweise gerechtfertigt". Nach allem, was man heute über die Mauer weiß, eine erschreckend hohe Zahl.

Es ist inzwischen bekannt, dass zwischen 1961 und 1989 über 100 Menschen am "Schutzwall" zu Tode kamen - Flüchtende, Grenzsoldaten und Unbeteiligte, die durch Minen oder Schüsse getötet wurden. Lässt sich das mit dem Hinweis auf wirtschaftliche Stabilität rechtfertigen? Nein, weder damals noch heute.

Wer findet, dass es legitim ist, Menschen einzusperren, um einen Staat am Leben zu erhalten, stellt Staatsökonomie über Menschlichkeit. Wer so denkt, ist entweder unverbesserlicher Apparatschik. Oder ein Geschichtsbanause. So viel wurde inzwischen über die Folgen von Mauerbau und Teilung berichtet und geschrieben, dass man gar nicht glauben mag, wie viele - auch in Freiheit und Demokratie Aufgewachsene - das Betonding jetzt "nötig" finden. Und wie viele gar nicht recht wissen, was am 13. August 1961 passierte. Auf den Geschichtsunterricht wirft das kein gutes Licht. Er tut wenig dagegen, dass die Apparatschiks ihre SED-Argumente unwidersprochen an die nächste Generation weitergeben können. Gut, dass Berlin so viele Zugezogene hat, die ein paar andere Perspektiven mitbringen.

CONTRA von Gereon Asmuth

Zehn Prozent der Berliner sind der Meinung, dass der Bau der Mauer richtig war. Das sind selbstverständlich immer noch 10 Prozent zu viel. Aber sind sie auch ein Grund zur Aufregung? Im Gegenteil: Sie sind ein Anlass zur Gelassenheit. Denn erstens wurde gefragt, ob der gruselige Mauerbau aus damaliger Sicht nötig und gerechtfertigt war. Das muss noch lange nicht heißen, dass alle Jasager die Mauer wiederhaben wollen. Und zweitens: Was sind schon 10 Prozent?

Würde man die Berliner fragen, ob sie für die Todesstrafe sind, die Wahl einer rechtsextreme Partei in Betracht ziehen oder sich einen König wünschen, 10 Prozent Jastimmen dürften stets sicher sein. Das Beruhigende ist doch: 90 Prozent der Berliner sehen den Mauerbau zumindest in Teilen kritisch. Und das in einer Stadt, in der ein Großteil der Bürger das Weltbild der DDR-Obrigkeit von klein auf eingebläut bekam.

Auch dass ein Viertel aller Neuberliner und jeder Dritte unter 30 nicht weiß, wann genau die Mauer gebaut wurde - für Angeber: es war ein Sonntag -, ist kein Drama. Die Wissenslücken, was aktuelle Politik angeht, sind viel größer. Wer sich tatsächlich am Stammtisch echauffieren will, sollte diesen Wert kennen: 38 Prozent aller Berliner haben keine Ahnung, wer Frank Henkel ist. Und nur für den Fall, dass Sie die Antwort auch gerade nicht parat haben: Er ist Fraktionsvorsitzender, Landeschef und Spitzenkandidat einer Partei, die über 20 Prozent der Stimmen bei der Abgeordnetenhauswahl einfahren will. Und jetzt mal ehrlich: Wissen Sie, ohne nachzuschauen, an welchem Tag gewählt wird?

Richtig schlimm ist am Ende nur eins: Gefühlt 37,8 Prozent aller Leser dieses Kommentars wissen mit Prozentzahlen nichts anzufangen. Hüben wie drüben.

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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