Sex im Netz: Berührung nur in Gedanken

Sexuelle Kontakte im Netz sind sauber und risikoarm. Schlimme Konsequenzen müssen nur Prominente und Politiker fürchten. Was passiert da eigentlich genau?

Entblößt im Netz: Anthony Weiner auf Biggovernment.com. Bild: reuters

BERLIN taz | Wo gibt es einen Ort, an dem ein israelischer Soldat, ein ägyptischer Jung-Revolutionär, eine norddeutsche Hausfrau, schwule Zwillinge aus Nordamerika und eine französische Swinger-Club-Besucherin gemeinsam onanieren? Im Netz natürlich.

Eine der Seiten, auf den so etwas tatsächlich passiert, heißt cam4.com. Es ist ein digitales Sodom und Gomorrha in wechselnd guter Auflösung, Bildschärfe und Beleuchtung. Die ganze Welt präsentiert dort - meist kopflos - live vor der Webcam Genitalien in allen Größen und Zuständen, Farben und Formen. Und das kostenlos und rund um die Uhr, denn aufgrund der verschiedenen Zeitzonen wird auf der Welt eigentlich immer irgendwo onaniert.

Der längst verstorbene Sexualforscher Alfred Kinsey hätte an all diesem Treiben wahrscheinlich eine unbändige Freude, musste er doch in den fünfziger Jahren durch halb Amerika reisen, um Geschlechtsorgane zu vermessen und Befragungen durchzuführen, die einen Aufschluss über das wahrhaftige Sexualverhalten seiner Landsleute geben sollten.

Kinsey hatte zum Beispiel herausgefunden, dass die meisten Menschen in Wahrheit bisexuell sind. Und richtig: Es outen sich bei cam4.com viele kopflose Körper als "bi-interested" oder "bisexual". Andere "Heteros" fragen zumindest pro forma ab und zu mal nach, ob denn "any women" hier seien, während am rechten Bildrand zahlreiche akklamierende Bekundungen ob der Beschaffenheit des Genitals und des kopflosen Körpers einlaufen. Von schwulen Männern. Den Applaus nehmen die Akteure gerne mit.

Frei von Körperflüssigkeiten und Geschlechtskrankheiten

Was Kinsey jedoch völlig überrascht hätte: Dieser Sex im Netz ist frei von Körperflüssigkeiten und Geschlechtskrankheiten. Einen Virus holt man sich höchstens auf den Rechner, doch da alles andere stets im Bereich der Fantasie und Onanie bleibt, gibt es weder Ungemach noch Nachwuchs. Es ist Clean Sex, der Menschen über ihre Langeweile oder sexuelle Not hinweghilft. Manchem mag er gar ein sexuelles Selbstbewusstsein verleihen, von dem er bislang nicht zu träumen wagte.

Wirkliche Schwierigkeiten beim Netzsex bekommen nur solche Menschen, die in exponierter Stellung ihr Dasein fristen müssen und trotzdem mitmachen möchten. Und solche, die dann auch noch so ungeschickt sind, ihr Gesicht zu zeigen und auf falsche Knöpfe zu drücken. So wie zuletzt der US-Politiker Anthony Weiner, der ausgerechnet via seines einer breiten Öffentlichkeit zugänglichen Twitter-Accounts Bilder von seinem Oberkörper und einer etwas unschönen Unterhose mit darunter liegender Ausbeulung der ganzen Welt zukommen ließ. Der "Reply-to-all"-Fehler in anderer Form, eigentlich sollte das "package.jpeg" eine junge Studentin erfreuen, die mit ihm in Kontakt stand. Seitdem kicherte die halbe Welt wie auf dem Pausenhof über Weiners "Wiener" in der Unterhose.

Nur Weiner weinte: Wie in den USA üblich musste er vor der ganzen Gemeinde - also live vor der TV-Kamera - zerknirscht seine Sünden gestehen. Sich entschuldigen. Bei seiner Frau, der Nation, seinen Feinden. Gestehen musste er, dass er eigentlich gar keinen Sex hatte, denn er sei der Frau, wie beim Netzsex üblich, ja nie begegnet. Ein Moral-Porno. Bill Clinton war seinerzeit noch der Meinung gewesen, er habe ja gar keinen Sex mit Monica Lewinsky gehabt, weil es sich lediglich um Oral-Sex im Oval Office gehandelt habe.

Sex in Gedanken

Aber nun sind wir schon wieder einen Schritt weiter, denn auch die Prüderie weiß sich an den Zeitgeist zu schmieden: Sünde ist nun schon der Sex in Gedanken, denn um einen solchen handelt es sich in der Regel beim Sex im Netz. Auf Entschuldung hoffen kann Weiner dagegen ausgerechnet aufgrund eines tatsächlichen und regelkonformen Austauschs von Körperflüssigkeiten. Es heißt, seine Frau sei schwanger.

Bei der zivilisatorischen Errungenschaft des virtuellen Geschlechtsverkehrs waren die Schwulen Vorreiter. gaydar.com, gayromeo.com, manhunt.com und wie sie alle heißen - schon seit den Neunzigern wird hier so fleißig gedatet, dass der Darkroom leer bleibt. Der User hat ein mehr oder weniger auskunftsfreudig bebildertes Profil und kann sich per Suchfunktion die passenden Sexualpartner organisieren. Date ausmachen, treffen, Sex haben, nach Hause gehen und Tatort gucken. Heteros haben nachgezogen, etwa mit dem Portal poppen.de.

Allerdings können auch all diese eigentlich auf das Konkrete ausgerichteten Institutionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das kulturkritische Verdikt des verstorbenen Sexualforschers Oswalt Kolle, nämlich dass man sich in Richtung einer Masturbationsgesellschaft bewege, immer wahrer wird: Auch hier geht es sehr häufig, wie bei Anthony Weiner, bloß um die Idee, jemanden treffen zu können. Im richtigen Leben ruft dann in letzter Sekunde die Großmutter an. Es bleibt bei der Fantasie, dass man sich ja hätte treffen können.

Manche Schwule treiben es dagegen auf die Spitze: Mit Hilfe des Smartphone-Apps von grindr.com können sie nun per GPS Sexualpartner in ihrer Nähe orten. Mit genauer Kilometerangabe. Wer da noch onaniert, ist bloß zu faul zum Laufen.

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