Die Hubschrauberperspektive

Die britische Autorin Georgina Hammick erzählt in ihrem Roman „Fluchtwege“ von Liebesverschleiß, Beziehungsangst und von der Sehnsucht nach Nähe und Einsamkeit

Allein erziehende Mütter gehören inzwischen zum beliebten Romanpersonal. Sie sind in der Regel chaotisch, hektisch und immer ein bisschen überfordert zwischen Kind, Beruf und neuem Beziehungsstress. Aber mit Humor und Organisationstalent kriegen sie es dann hin, so wie die Hauptfigur in Kate Longs rasantem „Handbuch für Rabenmütter“, das es im Sommer in England auf Platz eins der Bestsellerliste brachte. Nun sind die Männer dran. Und die verfallen unter Doppel- und Dreifachbelastung bekanntlich ja eher in Depression als in Hektik.

So jedenfalls Dexter Bucknell, 41-jähriger Farmerssohn aus Shropshire, der dem Landleben den Rücken zugekehrt und sich mittlerweile im Londoner East End an das Großstadtleben gewöhnt hat. Nachdem seine Frau ihn und die zwei Söhne sitzen gelassen hat, schlägt sich das einstige „Wunderkind der britischen Verlagsbranche“ als freier Lektor durch. Lustlos korrigiert er zu Hause zwischen Staubsaugen, Großeinkauf und Söhneerziehung für ein mieses Honorar an Manuskripten talentloser Autoren herum. Kurzum: Er ist raus aus dem Geschäft. Das wirkt sich nicht nur auf seine Laune, sondern auch auf den Geldbeutel aus. Die Bank sperrt seine Kreditkarte, die neue Freundin Moy will ihn nicht heiraten, und die rachsüchtige Exfrau überfällt ihn täglich mit neuen Drohungen. Als Dexter sich in einem Anflug von falsch verstandenem Bürgersinn im Park mit zwei jugendlichen Rowdies samt Kampfhund anlegt, scheint die Katastrophe nah. Doch zum tragischen Helden eignet er sich nicht, und so kommt Dexter mit blauen Flecken und einer eingeschmissenen Fensterscheibe davon.

Georgina Hammick, deren vorangegangene Erzählbände in England auf die Bestsellerlisten gelangten, interessiert sich nicht für Mord und Totschlag oder psychologische Ausnahmezustände, sondern für die ganz alltäglichen Katastrophen. In Rückblenden, die sie geschickt in die laufende Handlung einflicht, nähert sie sich langsam der Figur Dexters und all jenen, die in der „Situationstragödie seines Lebens“ eine Statistenrolle spielen.

Mit sprachlicher Präzision und feinem Gespür für Zwischentöne schildert Hammick die Fallen, die überall dort lauern, wo Männer und Frauen, Eltern und Kinder aufeinander treffen. Ein falsches Wort zur falschen Zeit, eine unangemessene Geste, eine harmlose Notlüge, und schon zeigen sich Risse in der Fassade. Nicht heftige Streitereien, sondern die banalen, kleinen hässlichen Gedanken sind es, die eine Beziehung allmählich vergiften. Aus ironischer Distanz beobachtet Hammick ihren Protagonisten dabei, wie er sich immer tiefer in das ganz normale berufliche und familiäre Elend verstrickt, bis alle Fluchtwege versperrt scheinen. Die Hoffnung, durch eine zweite Heirat die offene Wunde, die seine erste gescheiterte Ehe hinterlassen hat, zu schließen, erweist sich als trügerisch. Für jene „Wir-zwei-gegen-die-ganze-Welt-Solidarität, die verheiratete Paare, selbst wenn sie noch so zerstritten waren, ausstrahlten“, ist seine Freundin Moy nicht zu haben.

Am Ende kehrt Dexter auf den Hof seiner Eltern zurück, den er einst so hoffnungsfroh verlassen hat, und ob Moy ihm dahin folgt, bleibt offen. Bei aller Ausweglosigkeit ist „Fluchtwege“ kein düsteres Buch. Mit Leichtigkeit und subtilem Witz erzählt Hammick von Liebesverschleiß und Beziehungsangst, von Sehnsucht nach Nähe und dem Wunsch, allein zu sein. Spöttisch, aber ohne jede Häme beschreibt sie die Spezies des modernen Großstadtmenschen, der auf seine Unabhängigkeit pocht, doch dann, vollkommen auf sich selbst gestellt, verängstigt losblökt wie ein Schaf, das sich zu weit von der Herde entfernt hat. Wenn auf den letzten Seiten sogar verhaltener Optimismus aufkommt, liegt das auch an Dexters Fähigkeit zur Selbstironie. „Ein Glück, daß ich gelernt habe, die Dinge aus der Hubschrauberperspektive zu betrachten“, lautet sein Kommentar. Für ein richtiges Happy End reicht das allerdings doch nicht. MARION LÜHE

Georgina Hammick: „Fluchtwege“. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Steidl Verlag, Göttingen 2005, 359 Seiten, 19,90 Euro