Wegsperren und weitermachen?

JUSTIZ Jedes Jahr wird an Silvester vor dem Knast in Moabit demonstriert. Dort wird Solidarität mit den Insassen bekundet und die Gerechtigkeit des Strafvollzuges grundsätzlich in Frage gestellt

Hinter Gittern – eine Redewendung, ein Symbol, eine TV-Serie, ein Lebenszustand und die gängigste und banalstmögliche Antwort, welche die Menschheit auf die große Frage der Gerechtigkeit zu geben hat. Verbrechen definieren, Täter bestimmen, sie jagen, sie fangen, sie bestrafen, das heißt: wegsperren.

Eine Position, die dieses Konzept als Ganzes hinterfragt, sucht man im breiten öffentlichen Diskurs, z. B. bei Parteien oder Medien, vergeblich. Aber es gibt sie, Gruppen von AktivistInnen, die sich ambitioniert und ausdauernd dieses Themas annehmen. So auch der „Anarchist Black Cross Berlin“ (abc), der u. a. die Zeitschrift Entfesselt herausgibt. Dort wird zwar einseitig Stellung gegen die angewandte Gerechtigkeitspraxis bezogen und für die „Zuspitzung der sozialen Konflikte“ plädiert, dennoch ist ihre Lektüre sehr zu empfehlen. Auch wenn man danach nicht unbedingt von der kompromisslosen Haltung der HerausgeberInnen überzeugt sein mag, so werden die LeserInnen doch mit ganz grundsätzlichen Fragen konfrontiert, die zumindest zum Nachdenken anregen werden.

Fragen, die vielleicht nicht neu sind, denen es aber an Aktualität nicht mangelt. Ist das Konzept des Wegsperrens oder der Bestrafung insgesamt tatsächlich der Gesellschaft dienlich? Werden die Gefangenen nach ihrer Entlassung bessere Menschen sein? Inwieweit trägt ein Individuum überhaupt Verantwortung für seine Handlungen, wenn doch der „freie Wille“ weder von der Hirnforschung noch von der Philosophie oder Anthropologie ohne Vorbehalte bestätigt wird? Trägt die Umwelt jedes Individuums nicht gar den größten Anteil an seiner Entwicklung und wäre damit direkte Ursache seiner Handlungen – mit allen Konsequenzen? Also auch seiner „Verbrechen“? Produziert die Gesellschaft ihre Dämonen letztlich selbst? Müsste die Konsequenz demnach nicht eher auf die Gesellschaft, als auf das Individuum (den „Verbrecher“) allein zielen? Geht es überhaupt um eine bessere Gesellschaft oder eigentlich nur um den Erhalt oder die Steuerung von Macht- und Wohlstandsverhältnissen?

Die Kritik des abc am Strafregime geht ins Detail. So wird in Entfesselt z. B. das umstrittene Konzept der sog. „Sicherungsverwahrung“ beleuchtet, das es der deutschen Justiz ermöglicht, Gefangene auch nach Verbüßung ihrer Strafe weiterhin in Haft zu behalten – auch lebenslang. Besonderen Wert legen die AktivistInnen aber darauf, mit ihrer Kritik nicht nur die deutschen Verhältnisse anzuprangern. In der aktuellen Ausgabe von Entfesselt wird auch ausführlich über die Bedingungen in Italien, Frankreich, Griechenland, Belgien, dem Balkan und Lateinamerika diskutiert. Oder auch über Dänemark, wo es wohl bald auch möglich sein wird, selbst Kindern ab 12 Jahren elektronische Fußfesseln aufzuerlegen und sie unter Hausarrest zu stellen.

Das abc bemüht sich, die Inhaftierten in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden. Sie veröffentlichen nicht nur die Adressen der Insassen, um zu einem Briefverkehr mit anderen Menschen anzuregen, sondern sie ruft auch auf, selbst für ihre Zeitschrift Artikel zu verfassen. So auch Werner Bräuner, der 2001 wegen Totschlags am Arbeitsamtsdirektor Klaus Herzberg zu 12 Jahren Haft verurteilt wurde (taz berichtete). Von ihm ist ein Artikel abgedruckt, in dem er die Nietzsche-Interpretation der Jungen Welt kritisiert. Zusätzlich gibt es ein Interview mit ihm über seine Tat und die Situation, in der er sich seinerzeit befand, sowie über seine späteren Haftbedingungen, die er als Folter bezeichnet. Er habe seine 18 Monate U-Haft in einer 7[1]/2-qm-Zelle mit einem persönlichkeitsgestörten Mithäftling verbringen müssen. Außerdem soll er unter Druck gesetzt worden sein, seine Tat nicht als politisch darzustellen, weil ihm dann Isolation und Zwangsmedikation in der Psychiatrie drohe.

Das abc und Entfesselt erwecken den Eindruck einer vorbehaltlosen Sympathie mit Gefangenen. Daher sind ihre Informationen mit Vorsicht zu genießen, dennoch sind sie ein wichtiger Gegenpol, der zur Kenntnis genommen werden sollte. Schließlich werden es wohl kaum die Offiziellen sein, die ihr Fehlverhalten in die Öffentlichkeit tragen – dazu braucht es ein Forum für die Betroffenen.

Wie bereits seit Jahren wird das abc auch in diesem Jahr zu Silvester eine Demonstration zum Gefängnis Moabit veranstalten, um gegen das Einsperren als Lösung sozialer Konflikte zu protestieren und um den Gefangenen zu zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Los geht es am 31. Dezember um 22.45 Uhr am U-Bahnhof Turmstraße. Als Warm-up dazu wird es heute Abend in der Rigaer 94 ein Konzert des „Collectif Mary Read“ und des „Bühnenwunders“ Jenz Steiner – des King von Prenzlauer Berg – geben.

SAM T. FARD

Weitere Informatonen: www.abc-berlin.net

oderwww.bewegung.taz.de