Trauerfeier in Tucson: "Sie entdeckte gerade die Demokratie"

24.000 Menschen gedenken in Tucson der Opfer der Schießerei und huldigen ihren neuen Helden. Obama spricht von Hoffnung, Würde und über das Schicksal der neunjährigen Christina.

Trauern mit Angehörigen und Einwohnern: Barack und Michelle Obama. Bild: dpa

TUCSON taz | "Heilen", lautete das Gebot der Stunde. Keine Politik. Fünf Tage nach den tödlichen Schüssen von Tucson, die sechs Menschen das Leben gekostet und 14 weitere verletzt haben, denken die Menschen, die zu der Gedenkzeremonie für die Opfer gekommen sind, schon an die Zeit nach der schwersten Katastrophe, die seit Menschengedenken in der Wüstenstadt geschehen ist.

Sie wollen Trost, wollen Zuversicht und neue Perspektiven. Deswegen stehen manche von ihnen an diesem sonnigen Wintertag mehr als zehn Stunden lang Schlange, um in das Basketballstadion zu kommen, in dem am Abend auch der Präsident sprechen wird.

"Dass er uns zusammenführt", möchte die 21-jährige angehende Lehrerin Kristin. "Dass er jede Gewalt verurteilt", sagt der 18-jährige republikanische Jungunternehmer Zach. "Dass er unserer Stadt Energie bringt", sagt der Schüler Jeremy. Und eine Mutter, die mit ihrem 12-jährigen Sohn und ihrer 15-jährigen Tochter seit zehn Uhr morgens für einen Platz in der Veranstaltung am frühen Abend Schlange steht, erklärt unumwunden: "Dies ist die einmalige Gelegenheit, den Präsidenten in unserer Stadt zu sehen."

Ganz anders waren die JournalistInnen und PolitikerInnen in Washington vorab mit dem Auftritt umgegangen. Sie haben darüber nachgedacht, ob Barack Obama nach der Schießerei in die Fußstapfen seiner Vorgänger treten würde. Sie hatten Parallelen erwogen, zu den "Zukunftsrisiken", von denen dereinst Ronald Reagan nach der Challenger-Explosion sprach. Zu Bill Clinton, der nach dem Bombenanschlag von Oklahoma City Mut gegen Hass, Gewalt und Angst machte. Und zu George W. Bush, der nach den Attentaten vom 11. September einen Krieg erklärte und zugleich Toleranz gegenüber Muslimen predigte.

Das Blutbad vom Samstag hat in Tucson alle berührt. Die Wüstenstadt ist in wenigen Jahren auf eine Million Menschen gewachsen. Doch die Atmosphäre ist provinziell geblieben, mit beschaulichem Rhythmus und dem Gefühl, die Nachbarn zu kennen. Seit der Gewalttat ist Tucson der Ort, aus dem das 22jährige, kahl geschorene Monster kommt, das die Nation von den Titelseiten sämtlicher Tageszeitungen angegrinst hat.

Tucson ist der Ort, an dem niemand die vielen Warnsignale des Täters ernst genug genommen hat, weder sein aggressives Verhalten an der Schule, das letztlich zum Schulverweis führte, noch seinen Hass gegen die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, in den er sich hineingesteigert hat. Noch seine Verschwörungstheorien. Noch den Kauf der Todeswaffe mit einem besonders großen Magazin.

Als die Schüsse noch kaum verhallt waren, haben sich vor allem jene zu Wort gemeldet, die die laschen Waffengesetze in Arizona verantwortlich machen. Und die aggressiven Töne der rechten Tea-Party im vergangenen Wahlkampf. Doch fünf Tage später gilt der Schütze vor allem als geistig verwirrt. Und seine Tat als eine Katastrophe: "die überall in den USA hätte stattfinden können". Nur vereinzelt finden sich in der wartenden Menschenmenge Stimmen, die verlangen, dass privater Waffenbesitz verboten wird. Die 21-jährige Filmstudentin Adriana F. Garcia ist so eine. Ihr wäre es am liebsten, das Grundrecht auf Waffenbesitz würde aus der Verfassung verschwinden.

Barack Obama soll die Wunden heilen, die jene 24.000 Menschen spüren, die in dem Basketballstadion bei einem Wechsel von Chorgesängen, Geigenmusik und Jazz auf ihn warten. Am Eingang haben sie blaue T-Shirts erhalten. Deren Aufschrift: "Together we thrive - Tucson & America" ist zugleich das Motto der Veranstaltung.

Die oben herum blau eingekleidete Menschenmenge begrüßt ihre neuen Helden, die mit der Katastrophe den Weg auf den kleinen Bildschirm gefunden haben, mit langem Applaus: Die Ärzte im Weißkittel, die seit fünf Tagen um das Leben der Kongressabgeordneten und anderer Opfer kämpfen. Den Mann, der den Schützen zu Boden geworfen hat. Die Frau, die ihm das Magazin entriss. Den Praktikanten, der der Kongressabgeordneten mit Erster Hilfe vermutlich das Leben rettete.

Nachdem ein indianischer Heiler die Menge gesegnet hat und zwei MinisterInnen - Eric Holder für die Justiz und Janet Napolitano für die innere Sicherheit - Bibeltexte verlesen haben, tritt der Präsident ans Mikrofon. Er hält sich aus der politischen Tagesschlacht heraus. Greift niemanden an. Macht niemanden verantwortlich. Und erzählt stattdessen aus den Leben jener, die am vergangenen Samstag in die Schlagzeilen gekommen sind. Spricht von Hoffnung und von Würde, vom Heldentum jenseits der Schlachtfelder, von dem "amerikanischen Traum" und von den Dingen, die wichtiger sind als Ruhm und Macht.

Dann gibt er bekannt, dass die Kongressabgeordnete Giffords, die seit dem Durchschuss ihrer linken Schädelhälfte in einem partiellen Koma lag, an diesem Nachmittag erstmals ihre Augen geöffnet hat. Und die First Lady hält dabei ganz fest die Hand von Mark Kelly, dem neben ihr sitzenden Ehemann der verletzten Abgeordneten.

Aus dem Publikum ertönen "Amen"-Rufe. Und immer wieder steht die Menge zum Applaus auf. "Wir lieben dich", kommt aus der Menge, wo manche ihre zwei Jahre alten Obama-Shirts tragen.

Die Stadt in der Wüste ist schon dunkel. Nur die felsigen Berge rundherum leuchten noch im orangefarbenen letzten Sonnenlicht, als der Präsident über das Leben des jüngsten Opfers spricht. Christina-Taylor Green kam an dem Tag zur Welt, als Flugzeuge in das World Trade Center in New York flogen. Am vergangenen Samstag wurde sie erschossen. Kurz bevor sie zu dem Treffen der Kongressabgeordneten ging, war die Neunjährige in ihrer Schule zu einer Sprecherin gewählt worden. "Sie entdeckte gerade die Demokratie", sagt der Präsident. Er fügt hinzu, dass er in seinem Leben auf der Höhe der Erwartungen von Christina sein will.

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