Montagsinterview mit Radkurier Patrick Vobis: "Ich komme eigentlich immer überall vorbei"

Ein winziges Büro in einem Friedrichshainer Altbau. Eine einsame Energiesparlampe und ein Computerbildschirm spenden Licht, an der Wand hängt ein riesiger Stadtplan, übersät mit Zetteln. Hinter dem Bildschirm sitzt Patrick Vobis, Fahrradkurier und Mitinitiator des Kurierdienstes Fahrwerk. Während des Gesprächs melden sich immer wieder Kuriere über Funk. Vobis dirigiert sie durch die Stadt.

Schlechtes Wetter kennt er nicht, dafür ist er stets passend gekleidet: Radkurier Patrick Vobis. Bild: Wolfgang Borrs

taz: Herr Vobis, es sind minus 10 Grad, Sie müssen aufs Rad und Sendungen von A nach B befördern. Was ziehen Sie an?

Patrick Vobis: Viel. Mindestens zwei Sporthosen aus Kunststoff. Darüber eine Regenhose, zwei Paar Socken, Schuhe, darüber Neoprenüberzieher, Handschuhe, ein T-Shirt und drei Jacken. Ach so, und eine Sturmmaske.

Und das hilft?

Der 28-Jährige stammt aus dem nordrhein-westfälischen Neuss, in der Nähe von Düsseldorf. Zunächst beginnt er eine Ausbildung als Koch, dann schließt er eine kaufmännische Ausbildung ab. Nach Berlin zieht er der Liebe wegen - seine Freundin wohnt hier.

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Als Fahrradkurier fährt Vobis zunächst bei großen Kurierdiensten wie messenger und moskito. Dort lernt er zwar die Stadt kennen, aber auch, dass das Dasein als selbständiger Fahrradkurier ohne feste Bezahlung und soziale Absicherung ein hartes Brot ist.

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Im Herbst 2009 gründet er daher mit Freunden Fahrwerk - einen eigenen Kurierdienst in Form eines Kollektivs. Die Gleichgesinnten hatten sich zuvor über eine Forum für Fahrradkuriere getroffen und beim ersten Treffen festgestellt, dass sie in lauter bekannte Gesichter blickten. Angestellt sind die Kuriere zwar immer noch nicht - das gibt laut Vobis das Budget noch nicht her. Doch sie bezahlen nach Stunden, und Krankengeld gibt es auch.

Beim Fahren geht es. Aber sobald man irgendwo steht, kriegt man ganz schnell kalte Hände und Füße. Fies ist natürlich, dass man bei Schnee noch länger unterwegs ist als sonst, weil man nicht so schnell fahren kann.

Sind das Momente, in denen Sie sich fragen, warum Sie Fahrradkurier geworden sind?

Also das Frieren ist vielleicht mal eine halbe Stunde so schlimm, dass man denkt, ich will nach Hause. Meist kommt die Kälte schubweise.

Sie wünschen sich also nie, doch einen Bürojob zu machen?

Bestimmt, aber da müsste ich lange überlegen. Vielleicht, wenn der Schnee einem mit so richtig scharfem Wind ins Gesicht bläst. Das Allerschlimmste sind aber um die 0 Grad und Regen. Dann ist einem einfach nur kalt. In diesen Momenten würde ich tatsächlich lieber im Büro sitzen. Aber eigentlich ist Fahrradkurier mein Traumjob.

War das schon immer so? Andere wollten Arzt werden oder Pilot und Sie Fahrradkurier?

Genau. Ich bin in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und mit Freunden jedes Wochenende oder nach der Schule mit dem Rad durch die Gegend gefahren. Man sieht das ja auf dem Land, die Papageien, die da mit ihren Trikots herumfahren - nur dass wir nicht so dämlich aussahen.

Sie hatten keine Trikots?

Nein, wir hatten keinen so strengen Dresscode. Auf jeden Fall sind wir in der Gruppe immer so 50, 60 Kilometer gefahren, und ich fand das toll. So toll, dass ich es zum Beruf machen wollte.

Und Ihre Eltern haben die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, weil Sie keine Ausbildung machen wollten.

Ich habe erst mal eine kaufmännische Ausbildung gemacht und dann Papier verkauft. Aber ich habe mich in meinem Beruf tierisch gelangweilt. Ich saß täglich im Büro, acht bis zehn Stunden. Irgendwann habe ich mich schon morgens schlecht gefühlt, weil ich wusste, ich muss zur Arbeit. Man verdrängt das eine Zeit lang und läuft einfach so mit. Aber dann kam die Unzufriedenheit immer stärker durch.

Das Funkgerät piept und knackt. "Eins sechs", sagt eine Frauenstimme. "Eins sechs", antwortet Vobis. "Wir haben jetzt übergeben", sagt die Frau. "Alles klar, dann fährst du nach Neukölln. Aina, fährst du mal bitte Richtung Friedrichstraße Ecke Tor-", sagt Vobis. "Okay", kommt es aus dem Funkgerät. "Vier zwo", sagt Vobis. "Hört mich vier zwo?" Keine Antwort. Vobis legt das Mikro beiseite. "Dann eben gleich."

Ihr erster Arbeitstag als Kurier in Berlin, wie war der?

Schlimm. Ich war erst sechs Wochen in der Stadt und hatte den riesigen Falkplan vor mir. Alles, was ich kannte, war ein bisschen von Friedrichshain, weil ich dort gewohnt habe, Unter den Linden und Friedrichstraße, wo man die ersten Tage mal ist, wenn man nach Berlin kommt. Also im Prinzip gar nichts. Ich bin im Vortastsystem gefahren und habe alle zwei Kilometer geschaut, ob ich noch richtig bin. Es hat mindestens einen Monat gedauert, bis ich einen groben Überblick hatte und einigermaßen die Hauptstraßen kannte. Nach drei Monaten gings dann.

Ist es schwieriger, in Berlin als Fahrradkurier zu arbeiten als in einer anderen Stadt?

Berlin ist einfach megagroß. Wir hatten im Sommer einen Kurier aus Bremen da. Der sagte, er hat auch einen Falkplan, der ist genauso groß ist wie der von Berlin, aber er habe ständig auf die Karte geguckt und sich gewundert, dass er nur so Ministückchen vorangekommen ist. Die Dimension ist echt eine andere.

Aber mittlerweile klappts?

Ja. Aber auch wenn ich zehn Jahre fahre, werde ich noch Lücken haben. Der einzige Vorteil ist, dass ich gerade mit Freunden die Firma aufbaue und tatsächlich jeden Kunden kenne, der dazukommt - und damit auch weiß, wo der sitzt. Wenn man dagegen als Neuling zu einem großen Kurierunternehmen kommt, wird man einfach die ganze Zeit durch die Gegend geschickt.

Was haben Sie immer dabei, wenn Sie unterwegs sind?

Eine Gabel und ein Messer.

Wieso das?

Na ja, so viel verdient man in dem Job auch nicht. Und am billigsten ist es halt, sich etwas von zu Hause mitzunehmen oder in den Supermarkt zu gehen und einen Topf Oliven und Käse zu kaufen.

Wie halten Sie es mit einem Helm?

Ich würde sagen, so dreimal die Woche ziehe ich ihn an, zweimal nicht. Heute hatte ich ihn an.

Und nach welchem System?

Ach, unterschiedlich. Einmal ist es Stilsache, ein andermal denkt man: Heute schneit es, die Straßen sind rutschig, machen wir mal ein bisschen auf Sicherheit.

Ist Ihnen mal was passiert?

Ja. Am 14. November 2008: Ich war auf der Brunnenstraße Ecke Torstraße unterwegs und bin an den wartenden Autos vorbeigefahren. Ja, das darf man! Ein abbiegendes Auto kam aus dem Gegenverkehr, und der Fahrer hat offensichtlich nicht bedacht, dass auch Fahrräder unterwegs sein können. Ich bin in die hintere Beifahrertür geknallt.

Mit Helm?

Ja. Trotzdem gab es ein Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Brüche und Prellungen. Ich habe die Nacht im Krankenhaus verbracht und bin mit Gips nach Hause gekommen.

Wie war es, nach dem Unfall wieder aufs Rad zu steigen?

Die erste Woche hatte ich schon ein mulmiges Gefühl. Da bin ich auch immer mit Helm gefahren, bestimmt drei, vier Monate lang. Dann wurde es wieder ein bisschen lazy und die Angst ging weg. Negative Erinnerungen verdrängt man ja relativ schnell.

Auch ohne Unfälle ist Radfahren in Berlin nicht immer angenehm.

Das stimmt. Neuss, wo ich herkomme, ist viel ungefährlicher. Da ist einfach nicht so viel Verkehr. Und dann gibt es Städte wie Amsterdam, da müssen die Autofahrer warten, sonst kriegen sie echt Haue. Dafür steht man dann im Fahrradstau. Ich weiß nicht genau, was mir lieber ist.

Hier steht man als Radler oft im Autostau, weil man nicht an der Schlange vorbeikommt.

Also ich komme eigentlich immer überall vorbei.

Echt?

Fast immer. Es gibt derzeit eine Baustelle mit Gittern am Wittenbergplatz, wenn da ein Bus steht, komme ich auch nicht dran vorbei. Aber sonst eigentlich schon.

Wie risikofreudig sind Sie?

Ich würde nicht über rote Ampeln fahren, wenn auf der Kreuzung viel Verkehr ist. Das mache ich nur, wenn der Mensch im Auto keine Angst haben muss, mich zu erwischen. Auf der Friedrichstraße, auf der in beiden Richtungen relativ viel Verkehr ist, würde ich aber schon in der Mitte fahren, um an den Autos vorbeizukommen. Ich habe keine Angst vor einem Auto, das mir entgegenkommt, wenn ich ein bisschen auf dessen Streifen fahre.

Ist das die Herausforderung beim Kurierfahren: die Stadt als Parcours, als eine Art Spielplatz?

Ja, schon. Die meisten Kuriere haben auch etwas Kindisches.

Inwiefern?

Es sind schon Leute, die sich treffen, um Spaß zusammen zu haben, abends gemeinsam weggehen, Wettrennen fahren.

Also eine eigene Szene.

Es gibt natürlich auch Kuriere, die das nur machen, weil sie nicht wissen, wie sie sonst ihr Essen und ihre Wohnung bezahlen sollen. Aber die allermeisten gehören schon zu einer Szene.

Was macht die aus?

Kuriere sind größtenteils jüngere Leute so zwischen 18 und 35 Jahren. Einige studieren nebenbei, andere machen das hauptberuflich. Äußerlich erkennt man sie an einem gewissen Kleidungsstil. Man trägt kurze Hosen mit vielen Taschen, um sein ganzes Zeug zu verstauen - auch über der langen Hose. Ringelsocken sieht man auch häufig. Die Szene geht auch über eine Region hinaus. Zum Beispiel waren letztes Jahr im Sommer die Europameisterschaften in Berlin. Da merkt man schon, dass ein Zusammenhalt da ist.

Das Funkgerät knackt, es kommt Rauschen und Genuschel. "Wer rief?", fragt Vobis. "Sechs zwo", sagt eine Männerstimme aus dem Gerät. "Okay, gibst du mir die Schecknummer durch?", sagt Vobis. Die Stimme nennt ein paar Zahlen. Dann klingelt das Telefon, Vobis klemmt sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und nimmt einen Auftrag entgegen.

Wenn man in der Stadt Kuriere sieht, hat man den Eindruck, 80 Prozent sind Männer.

Wahrscheinlich sind es sogar mehr. Wir haben immerhin bei elf Kollegen drei Frauen. Das ist schon verdammt viel. Keine Ahnung, warum es in dem Job so wenige Frauen gibt. Wir hätten auch gern mehr.

Warum?

Ich glaube, es tut einem Team gut, wenn sich die Gesellschaft ein bisschen in ihm abbildet. Und nicht nur elf weiße deutsche Männer drin sind.

Gibt es in einem Kurierdienst überhaupt viel Teamarbeit - es fährt doch sowieso jeder für sich?

Bei den meisten Diensten gibt es kein Team. Fahrradkurier zu sein ist eigentlich ein Einzelkämpferding. Bei uns ist das etwas anders. Wir arbeiten zusammen, etwa wenn Sendungen irgendwo übergeben werden. Wir legen auch Wert darauf, dass jeder jede Arbeit kann. Und bei uns dürfen Leute quer miteinander funken, um sich abzusprechen.

Sie nennen sich Kollektiv. Ist diese Arbeitsweise Teil des Kollektivgedankens?

Auch. Ganz allgemein finde ich, dass man sozial miteinander umgehen sollte. Das heißt für einen Kurierdienst, dass man nicht nach Auftrag bezahlt. Sonst verdienen immer die mehr, die schon am längsten dabei sind und die Aufträge mit den kürzesten Wegen bekommen. Daher rechnen wir nach Stunden ab.

Haben Sie auch ein Plenum?

Ja, wir treffen uns ungefähr einmal die Woche. Wir machen alles im Konsensprinzip: von der Preisstruktur bis zur Frage, ob wir Aufträge annehmen.

Zum Beispiel?

Vor einigen Wochen kam ein Auftrag von einer Art Inkassobüro. Die kaufen Rechnungen auf und machen säumige Zahler ausfindig. Der Job war, zu bestimmten Adressen hinzufahren und zu schauen, ob dort ein bestimmtes Namensschild hängt.

Und?

Wir haben uns nicht geeinigt. Daher haben wir den Auftrag nicht angenommen. Das ist natürlich doof, denn das hätte monatlich 500, 600 Euro gebracht.

Ist der Kurierdienst auch eine Investition in Ihre eigene Zukunft?

Ja klar. Es zielt schon ein bisschen darauf ab, dass man nicht immer draußen ist, sondern auch mal Bürotätigkeiten macht. Ich weiß nicht, wie lange man Kurier sein kann - ich kenne jemanden, der das noch mit 60 macht. Aber das ist wohl eher die Ausnahme.

Aber momentan investieren Sie Ihre gesamte Zeit in die Arbeit.

Ja, im Moment schon. Das wird sich aber hoffentlich im März ändern, da werde ich nämlich Vater. Dann will ich nur noch zwei Tage die Woche viel arbeiten müssen. Ich will schon gerne aktiv bei der Erziehung mitwirken. Und nicht eines Tages feststellen, oh, mein Kind geht in die Schule. Oder es hat den Führerschein gemacht. Das hoffentlich sowieso nicht.

"Eins sechs", sagt die Frauenstimme aus dem Funkgerät. "Eins sechs", antwortet Vobis. "Ich bin fertig", sagt die Frauenstimme. "Dann fährst du auch mal nach Hause", sagt Vobis. "Gute Nacht." Er legt das Mikro auf den Tisch.

Sie haben keinen Führerschein?

Doch. Noch.

Wieso noch?

Ich bin über ganz viele rote Ampeln gefahren.

Als Radfahrer?

Genau. Ich hätte zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung gehen können, aber das kostet wieder Geld und Zeit. Daher werde ich ihn wohl abgeben.

Wie reagieren Polizisten, wenn sie Sie rausziehen?

Viel an Gespräch findet da nicht statt. Führerschein, Personalien. Eine Belehrung versuchen die gar nicht. Ich habe aber das Gefühl, dass Kuriere eher rausgezogen werden. Wenn zum Beispiel mehrere Radfahrer über Rot fahren, werde ich eher angehalten.

Wie viel mussten Sie schon zahlen?

Viel. Meine teuerste Ampel kostete 180 Euro.

Und was machen Sie, wenn der Nachwuchs eines Tages auch Kurier werden will?

Kein Problem. Die Ringelsocken sind gekauft.

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