Forensiker Guntram Knecht über Therapie und Strafe: "Es sind besonders schöne Blüten"

In den forensischen Abteilungen der Krankenhäuser sollen psychisch kranke Straftäter therapiert werden. Der Hamburger Forensiker Guntram Knecht über die Verführung zum Lernen, faule Tricks der Politik und Sexualstraftäter als Repräsentanten des Bösen.

Dem Ethos der Wahrhaftigkeit verpflichtet: Guntram Knecht. Bild: Miguel Ferraz

taz: Wie früh war Ihnen klar, dass Sie Forensiker werden wollten, Herr Knecht?

Guntram Knecht: Dass war zu einem gewissen Grad Zufall: Als ich studierte, gab es einen Forschungszweig an der Universität Wien zur Arbeit mit psychisch kranken Straftätern. Die Herausforderung war, schwierige Therapiefragen zu lösen - es sind ja Patienten, die anderswo gescheitert sind - in Verbindung mit der Prognosefrage.

Hatten Sie Scheu beim ersten Kontakt mit diesen Patienten?

Natürlich. Wenn man von der theoretischen Seite her daran denkt, befremdet es und macht Angst. Letztendlich war es der Kontakt mit den Tätern, den Patienten, der ganz anders war als erwartet. Es waren Menschen, die genauso hilfsbedürftig waren wie gefährlich, und das hat mich fasziniert, gemeinsam mit der Mischung von Randgebieten der Psychiatrie, von Strafrecht, Kriminologie, Kulturwissenschaft.

Schaut man sich dann selbst nachdenklich an und fragt, wie viel Voyeurismus im eigenen Interesse liegt?

Alle in der Psychiatrie Tätigen können Supervision in Anspruch nehmen. Wenn die eigenen Koordinaten nicht stimmen, ist es schwer, eine gemeinsame Wanderung hinzukriegen. Es geht um Wahrhaftigkeit. Das ist in der forensischen Psychiatrie sehr ausgeprägt, dieses berufliche Commitment, sich nicht täuschen zu lassen, sich nicht Dinge schönzureden.

Brauchen Sie die Begleitung von außen auch, weil die positive Rückmeldung von den Patienten seltener kommt als in der allgemeinen Psychiatrie?

Wir sind ziemlich extremen Positionen ausgesetzt. Es gibt Patienten, die uns bedrohen, andere versuchen, uns zu manipulieren. Deswegen arbeiten wir viel im Team und haben ein Mehr-Augen-Prinzip. Es mag sein, dass die Patienten aus der allgemeinen Psychiatrie sich häufiger bedanken als unsere. Aber wenn bei uns die Arbeit gelingt, dann sind es besonders schöne Blüten.

studierte Medizin in Innsbruck und Wien. 1991 Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Ab 1998 Assistenzprofessor an der Universitätsklinik für Psychiatrie Wien. Seit 2000 Leitender Arzt der VI. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie - Forensische Psychiatrie in der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg.

Wie ist die Atmosphäre auf der Station?

Im Wesentlichen haben Sie eine Station, die einen ruhigen, harmonischen Takt hat, der unterbrochen wird von Krisen, die professionell gemanagt werden. Wir haben hier im Moment 282 Patienten, wir haben sie im Durchschnitt fünf Jahre und in diesen fünf Jahren halten wir alles vor, was Menschen ausmacht: Wir haben hier Sport, Schule, wir haben hier Liebespaare, es wurde auch schon ein Kind im Maßregelvollzug geboren.

Wie hoch ist der Anteil der Patienten, der nicht kooperiert?

Zu Beginn fast 100 Prozent. Es ist ja nahezu ein Eingangskriterium in die Forensik. Zu uns kommen ja Patienten, die in den herkömmlichen Angeboten gescheitert sind und die deshalb immer kranker geworden sind und dann merkwürdige Taten begehen. Wir beginnen schon auf der Akutstation mit der so genannten Psychoedukation. Das heißt, der Patient wird zum Experten der eigenen Krankheit, statt zum passiven Objekt. Unser Ziel ist, dass die Patienten am Schluss einen Teil des Monitorisierens der eigenen Gefährlichkeit übernehmen.

Wenn man sich das praktisch vorstellt: Der Patient kommt und sagt: Nein, danke, an der Gruppentherapie habe ich kein Interesse - was passiert dann?

Wir stellen gar nicht die Frage, wollen Sie mitmachen, sondern sagen: Das Gericht schickt Sie zu uns, weil Sie als gefährlich gelten, es wurde eine psychiatrische Krankheit festgestellt, lassen Sie uns das Beste daraus machen. Ein Patient mit Persönlichkeitsstörung etwa fühlt sich vollkommen gesund. Es gibt vielleicht Schwierigkeiten, aber daran sind die anderen schuld, die Vergewaltigung war gar keine, sondern ein Missverständnis. Dann geht es darum zu klären: gibt es ein Problem, was für eines ist es, welche Möglichkeiten gibt es, sich zu verändern. Wir versuchen, die Leute zum Lernen zu verführen.

Womit?

Es gibt zum Beispiel Comics für Schizophrene. Wenn Sie mit Kreide auf eine grüne Tafel schreiben, schläft Ihnen der Patient ein, weil es ihn an die Schule erinnert, die er abgebrochen hat.

Ein Klischee des psychiatrisch kranken Straftäters ist das eines völlig unauffälligen Menschen, der plötzlich durch ein Verbrechen auffällig wird.

Das gibt es, ist aber die verschwindende Ausnahme. Der Regelfall ist der, dass jemand sozial auffällig ist, dass es Interventionsversuche gibt, die scheitern, und dann wie auf einer schiefen Ebene ein Miteinander von Krankheit und sozialem Abstieg. Der Durchschnittspatient ist mehrfach in der Psychiatrie gewesen, zwischen 20 und 30 Jahre alt und bei seiner Einweisung schon mehrere Jahre krank.

Gibt es eine Tendenz, Menschen, die Straftaten begehen, zu pathologisieren? Nach dem Motto: Wer so etwas getan hat, muss krank sein?

Das ist ein altes Thema. Aber Kriminalität ist in keiner Weise ein Indiz für Krankheit, das sind ganz verschiedene Welten. Wenn wir den Menschen eine Willensentscheidung zubilligen, dann kann er sich auch für Kriminalität entscheiden.

Wird in der Politik nicht genauso pathologisiert, wenn man fordert, zu entlassende Sicherungsverwahrte in die Psychiatrie zu schicken?

Die Politik hat sich da in eine bedauernswerte Lage bugsiert. Sie hat der Bevölkerung versprochen: Wir bewahren euch vor diesen gefährlichen Elementen, die tauchen nie wieder auf. Ein Taschenspielertrick! Bei all diesen Menschen wurde in der Hauptverhandlung festgestellt, dass es sich bei ihnen nicht um eine psychische Störung handelt. Warum so jemand nach zehn Jahren Sicherungsverwahrung noch einmal untersucht werden und dann plötzlich krank sein sollte, erschließt sich nicht. Es ist ein Entlastungsmanöver, aber keine Lösung von Problemen.

Warum nehmen die Sexualstraftäter, die in der Forsensik ja gerade mal 20 Prozent ausmachen, den größten Teil der öffentlichen Debatte ein?

Mit ihnen sind viele Ängste und Projektionen verbunden. Die Sexualstraftäter sind die Repräsentanten des Bösen in der Welt. Dabei sind es keine Außerirdischen, es sind ja Nachbarn, Sportkollegen, Angehörige, sozusagen Menschen aus unserer Mitte.

Das hört niemand gerne.

Als Folge dessen haben wir große Schwierigkeiten, den Auftrag des Parlaments an uns, nämlich Besserung und Sicherung, zu erfüllen. Wir haben entlassungsfähige Sexualstraftäter und finden für sie keine Wohnheimplätze in Hamburg. Die Einrichtungen sagen zu Recht: Wenn wir einen dieser Menschen nehmen, sind zwei Zeitungen hinter uns her. Und wenn wir die Diskussionen zum Internetpranger haben: Das Bedürfnis danach ist zwar verständlich - die Wirkung aber kontraproduktiv. Diese Stimmung der Verfolgung erhöht das Rückfallrisiko.

Ich habe Sie zweimal zitiert gefunden zum Rückfallrisiko von Sexualstraftätern. Einmal stand da "nur 20 Prozent" und einmal "immerhin 20 Prozent".

Ich bin da ganz empirisch. Es sind die Daten, die wir kennen und die kann man so oder so sehen. Bei Eigentumsdelikten liegt die Rückfallquote deutlich höher. "Immerhin" würde man sagen, wenn man sieht, was Sexualstraftaten für das Opfer bedeuten. Im Moment haben wir die paradoxe Situation, dass es überhaupt kein Risiko geben darf - was unerreichbar ist, solange wir die Täter nicht lebenslang wegsperren. Aber das sagt niemand. Unser Auftrag ist antagonistisch: Therapie und Sicherung. Im Zuge der Behandlung bereite ich den Patienten auf die Rückkehr in die Gesellschaft vor. Er geht also irgendwann vor die Tür und es passiert nichts - aber ich kann ihn nur weiterbehandeln, wenn ich ein gewisses Risiko von Zwischenfällen einräume.

Wie sieht das aus?

Wir vergleichen uns, wie die Luftlinien, die ihre Abstürze pro Millionen Kilometer haben, mit dem Maßregelvollzug der gesamten Bundesrepublik. Wir haben in Hamburg 90 Prozent weniger als der Durchschnitt. Das schützt mich aber nicht davor, bei einer Flucht vollkommenes Versagen zu repräsentieren. Und dann fragt niemand danach, dass der Maßregelvollzug die mit Abstand erfolgreichste aller Vollzugsformen ist.

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