die wahrheit: Faustdicke Augen

Argentinien-Woche der Wahrheit: Die Psychopharmaka der Pampa.

Wenn er seinen Malventee nicht bekommt, wird der Gaucho unruhig. Bild: ap

Die dunklen Augen des Argentiniers sind in die unbestimmte Ferne gerichtet. Sein Blick ist voller Stolz und Trauer, dazu mischt sich Stolz auf die Trauer und Trauer über den eigenen Stolz im ebenmäßigen Antlitz des Gauchos. Man könnte diesen traurigen Stolz, diese stolze Trauer für eine Pose halten, aber das ist er nicht. Und sie auch nicht. Vielmehr ist das Gaucho-Geschau zwingende Folge der glücklosen Geschichte des Silberstaates (lat. Argentum).

Schon kurz nach Gründung der Stadt Buenos Aires ("Gute Luft") am Rio de la Plata ("Silberfluss") am 2. Februar 1536 bemerkten die dort siedelnden Einwanderer (sog. Urgentinos), dass man sie mit drei faustdicken Lügen nach Südamerika gelockt hatte. Schon nach wenigen Tagen mussten sie erstens feststellen, dass die Luft in Buenos Aires eher schwül und stickig ist und meist einen fauligen, äußerst unangenehmen Geruch transportiert. Kurz danach stellte sich zweitens heraus, dass im gesamten Rio de la Plata kein Silber zu finden ist. Die Urgentinier schwärmten also aus, um den Rest des Landes abzusuchen, kehrten aber alsbald und drittens ohne Beute zurück. Im ganzen Silberland konnten sie keine nennenswerten Mengen an Silber finden, nur die versteinerten Knochen eines Wesens aus der Urzeit brachten sie heim: Megatherium, das Riesenfaultier.

Die enttäuschten Argentinier beschlossen, es dem tierischen Ureinwohner gleichzutun, machten Megatherium zum Wappentier des Landes und bewegten sich nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Seither hat sich in Argentinien eigentlich nicht mehr viel getan. Diese frühen Erfahrungen mit nationalem Etikettenschwindel schlagen den empfindsamen Argentiniern bis heute aufs Gemüt, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Bemühungen, die eigene Depression vergessen zu machen, nur selten von Erfolg gekrönt sind. Größter Fehlschlag: die Musik. Ende des 19. Jahrhunderts brachten finnische Einwanderer den Tango nach Argentinien. Dieser ursprünglich sehr heitere Tanz mit viel Rasseln, Zimbeln und Herumhüpfen sollte die griesgrämigen Gauchos eigentlich aufheitern - doch das gelang nicht. Schnell wandelten sich die lustigen Lieder zu schwermütigen Litaneien, und bald war der Tango das, was wir heute kennen und verabscheuen: ein schwer erträglicher Singsang, in dem traurige, aber stolze Männer von einer verflossenen Liebe jaulen und vom Kaffee in Buenos Aires, der heute auch nicht mehr so gut schmeckt wie früher und, diesem Umstand sind ganze Strophen gewidmet, in viel zu kleinen Tassen ausgeschenkt wird (daher auch die Bezeichnung "Cortado" für einen typisch argentinischen Milchkaffee - er ist, wie die Übersetzung schon sagt, nur echt, wenn "gekürzt").

Der allzu frühe Tod Evita Perons tat ein Übriges, es folgten die Militärdiktatur und der verlorene Falkland-Krieg. Mit den von den Engländern gehaltenen Inseln konnte zwar eigentlich nie jemand etwas anfangen, aber dennoch und wohl aus Trotz würdigen die Argentinier ihre abhandengekommene Inselgruppe, in der Landessprache Malvinas genannt, noch heute mit jedem Schluck ihres berühmten Nationalgetränks: Malventee. An jeder Straßenecke kann man die Argentinier beisammen stehen sehen, sie schlürfen den für seine sedierende Wirkung bekannten Malventee aus speziellen Kokusnuss-Bechern und dämmern kollektiv dahin.

Die überraschende und selbst die gähnenden Gauchos erschreckende Aufdeckung von Diego Maradonas Drogenmissbrauch im Jahr 1994 brachte das letzte bisschen argentinischer heiler Welt zum Einsturz. Im Jahr 2001 folgte dann auch noch der Zusammenbruch der argentinischen Währung und jüngst bei der WM 2010 die 4:0-Niederlage gegen die deutsche Fußballnationalmannschaft. Seither können die Argentinier das Leben eigentlich nur noch ertragen, wenn sie sich die Birne abdichten. Auf dem Lande geschieht dies traditionell mit dem Verzehr eines gesamten Rindes. Argentinier essen nicht nur das Fleisch, sondern auch Hals, Zunge, Augen, Hirn, Hufe und insbesondere auch die Testikel ("Boludos") des Rindes, welchen halluzinogene Wirkung zugeschrieben wird. Dazu wird in brütender Mittagshitze, die dort sogar an Weihnachten vorherrscht, literweise Rotwein getrunken.

Die Städter hingegen bevorzugen Psychopharmaka. Jeder Einwohner von Buenos Aires nimmt täglich mindestens drei Tabletten "Rivotril" zu sich, ein schnell süchtig machendes Benzodiazepin, was auch die Staus in der Innenstadt erklärt - das Fortkommen ist den "Porteños" im tablettengesättigten Zustand herzlich egal. "Porteños" werden sie im Übrigen genannt, weil jeder ständig seine Dosis Psychopharmaka mit sich herumträgt (portar - tragen).

Nur einmal im Jahr können sich die Argentinier wirklich freuen: wenn Semino Rossi, auch in Deutschland bekannter Schlagersänger mit Superstar-Status in seiner Heimat Argentinien, zum argentinischen Nationalfeiertag im Boca-Juniors-Stadion auftritt und dort Hunderttausende begeistert. Auch das argentinische Fernsehen überträgt jeden seiner Auftritte live - das Volk freut sich, als würde Evita wiederkehren.

Sollten Sie in diesen Tagen also einem melancholischen Gaucho begegnen, der sich auf der Frankfurter Buchmesse verirrt hat, dann tun Sie ein gutes Werk: reichen Sie ihm einen Schluck Malventee und dazu ein Rivotril, stimmen Sie noch ein Lied von Semino Rossi an und sagen Sie ihm, wo er schöne Boludos finden kann. Seine stolzen, traurigen Augen werden es Ihnen danken. STEFAN KUZMANY

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