Montagsinterview mit Charité-Psychiater: "Wir sind ein Krankenhaus und kein Gefängnis"

Von Andreas Heinz Büro blickt man in den Garten des Charité-Campus in Mitte. Dort zwitschern die Vögel, Patienten liegen auf der Wiese und entspannen. Heinz versucht, den Menschen hinter der Krankheit zu entdecken und kämpft seit seiner Studienzeit für offene Stationen.

"Menschen sind empfindliche Wesen und können immer krank werden": Andreas Heinz in der psychiatrischen Klinik der Charité. Bild: Rolf Zoellner

taz: Herr Heinz, oft liegen Psychiatrien am Stadtrand oder sogar weit ab in der Pampa. Ihre ist mitten in der Stadt. Wäre die Umgebung weiter außerhalb in der Natur nicht erholsamer für Ihre Patienten?

Andreas Heinz: Hinter Ihrer Frage steckt der weitverbreitete Glauben, dass die Großstädte mit Drogen, Alkohol und aufrührerischen Gedanken die Menschen krank machen, und die romantische Vorstellung, dass es den Leuten in der Natur besser geht.

Diese Vorstellung ist also ein Anachronismus?

Schon vor 150 Jahren kämpfte Wilhelm Griesinger, der Begründer der Psychiatrie in der Charité, dafür, dass die Patienten in der Stadt bleiben und nicht aus ihrem Lebensumfeld gerissen werden. Dazu kommt: Gerade wenn man sagt, man war in einem kleinen Ort im Krankenhaus, wissen alle sofort, dass man in der Psychiatrie war. Das ist stigmatisierend.

Andreas Heinz wurde am 4. Februar 1960 in Stuttgart geboren. Er studierte in Bochum Medizin, anschließend in Berlin Philosophie und in Washington (USA) Ethnologie. Während dieses Studienaufenthaltes lernte er seine Frau, eine gebürtige Jamaicanerin, kennen. Beide zogen Anfang 2000 nach Kreuzberg 36. Mittlerweile lebt das Paar mit seinen zwei Kindern am südlichen Stadtrand.

Seit 2002 ist er Leiter der Psychiatrie der Charité in Mitte. Die psychiatrische Abteilung umfasst drei Stationen und eine Tagesklinik mit insgesamt 240 Betten. Von 1983 bis 1987 war Andreas Heinz als Student in einer Psychiatriebeschwerdestelle tätig. Dort können sich vermeintliche Opfer einer psychiatrischen Behandlung melden. Er ist anerkannter Suchtforscher und hat eine Zusatzausbildung in Hypnose.

Neben der Suchtforschung ist das Krankheitsverständnis verschiedener Kulturen sein Steckenpferd. Dazu forschte er unter anderem in Jamaica nach dem Umgang mit Diabetes. Um hiesige Einwanderer besser psychiatrisch betreuen zu können, gründete er den Forschungszweig "Interkulturelle Psychiatrie" an der Charité. Im Juni startete die Kampagne "Beende Dein Schweigen, nicht Dein Leben" , die sich explizit an junge türkischstämmige Frauen wendet.

Kommen Ihre Patienten aus ganz Berlin?

Ein Viertel kommt aus der direkten Umgebung des Krankenhauses. Mitte als Bezirk umfasst ja auch Wedding und Tiergarten. Das sind sozial sehr angespannte Stadtteile aufgrund der Armut.

Sozial Schwache gelten als krankheitsanfälliger als Bessergestellte. Stimmt das auch für psychische Erkrankungen?

Ja, die Anfälligkeit für psychische Krankheiten ist höher, wenn man arm ist. Aber Sie verarmen einfach auch schneller, wenn Sie psychisch krank sind und wenig Antrieb haben, wie etwa in einer Depression.

In Mitte wohnen doch auch viele Wohlhabende …

Ja klar, die Schicken gibt es in allen Stadtteilen. Auch Besserverdienende, die neu nach Berlin gezogen sind und damit nicht klarkommen, landen in unserer Rettungsstelle. Aber diejenigen mit mehr Geld suchen sich eher eine private Versorgung. Reiche sind nicht geschützt vor psychischen Erkrankungen, aber das Risiko ist geringer.

Kommen die meisten freiwillig?

Ja. Die Leute kommen meistens in einer Notfallsituation. Sie haben ganz häufig eine akute Psychose, sind alkoholabhängig oder haben einen Suizidversuch hinter sich. Eine Zwangseinweisung geschieht höchstens in zehn Prozent aller Fälle. Also das, was Sie aus Filmen wie "Elementarteilchen" kennen, wo der Mensch auf dem Flur niederkniet und im Abspann steht: " Er blieb ein Leben lang in der Psychiatrie" - das gibt es überhaupt nicht mehr.

Aber man hört doch von Fällen, wo Menschen jahrelang weggesperrt wurden.

Da bringen Sie etwas durcheinander. In forensischen Kliniken werden psychisch erkrankte Menschen aufgrund von Straftaten länger untergebracht. Das hat aber nichts mit der akuten psychiatrischen Hilfe zu tun. In den Berliner Psychiatrien liegt man im Durchschnitt nur drei Wochen. Dass jemand dort jahrelang untergebracht wird, ist mit der modernen Auffassung von Psychiatrie überhaupt nicht vereinbar.

Was heißt denn "moderne Psychiatrie"?

Wir haben keine geschlossenen Stationen mehr. Unsere Stationen sind die meiste Zeit offen, weil das für die Patienten besser ist. Es gibt viel weniger Konflikte, weil sie sich nicht eingesperrt fühlen.

Und was ist mit selbstmordgefährdeten Patienten?

Sie können die Türen nur öffnen, wenn Sie sich mit den Patienten absprechen - auch mit denen, die nicht freiwillig da sind. Das gelingt bei guter Behandlung erstaunlich oft. Dann können die Leute die Station verlassen, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Und die kommen alle wieder?

Es laufen weniger Patienten von der offenen Station weg als von einer geschlossenen. Das hängt aber immer auch von den diensthabenden Ärzten ab und dem Vertrauen, das sich entwickelt. Das ist ja ein Krankenhaus und kein Gefängnis.

Gibt es Ausnahmen?

Wir versuchen mit den Patienten immer einen Kompromiss auszuhandeln, damit die Öffnung bestehen bleibt. Nur sobald ein Patient sich und andere gefährdet, muss ich der- oder demjenigen beistehen und gegebenenfalls auch gegen seinen Willen helfen. Dabei kann es natürlich zu sehr schwierigen Diskussionen kommen.

Trifft Sie Kritik an der Psychiatrie von außen persönlich?

Klar, weil ich als Student in den 80er Jahren im Psychiatriebeschwerdezentrum gearbeitet habe und schon immer eine offene Psychiatrie will. Aber manche Organisationen sind durch einen menschlichen Umgang mit Patienten nicht beruhigt: Die wollen die Psychiatrie ganz abschaffen. Das ist extrem romantisch und für die Patienten gefährlich, da sie in einer akuten Phase einer Psychose zum Beispiel eine Gefahr für sich oder andere sein können.

Zweifeln Sie durch solche Kritik an Ihrer Arbeit?

Man zweifelt immer ein bisschen. Wann sollten Sie respektieren, dass ein Mensch in einer Psychose lebt und da nicht raus will? Und ab welchem Punkt ist das schwere Vernachlässigung eines Menschen in seiner Erkrankung? Das ist eine ganz schwierige Gratwanderung. Eine Mitstudentin hatte jahrelang eine Psychose und musste schließlich zwangseingewiesen werden. Sie war nachher sauer auf ihr Umfeld, weil sie nicht früher behandelt worden war.

Warum suchen sich Psychiatriekritiker ausgerechnet Sie als Gegner aus, wo Sie doch eine so liberale Position vertreten?

Wir sind ja trotzdem Psychiatrie, auch wenn wir sie öffnen wollen. Das ist doch wie früher bei den Linken: Wenn man quasi der liberale Polizeipräsident ist, der am 1. Mai weichere Gummiknüppel einsetzt, dann macht man sich unbeliebter als der Hardliner. Ich hätte mir früher weichere Gummiknüppel gewünscht …

Warum denn?

Ich habe auf einer linken Demo einen Polizeiknüppel abbekommen. Das hat Folgen bis heute.

Wie links waren Sie denn?

Als ich in den 80ern Medizin studierte, war ich politisch sehr aktiv. Wir organisierten damals Proteste gegen den Internationalen Währungsfonds, der in Deutschland tagte. Ich war auch in Nicaragua und habe dort Studentenheime mit aufgebaut. Es war eine Zeit, in der es sehr viel Hoffnung auf politische Veränderungen gab. Vor allem die Hoffnung auf einen antiautoritären linken Weg zwischen Sowjetunion, betonisiertem Sozialismus und Kapitalismus.

Nach Ende Ihres Medizinstudiums haben Sie noch ein anderes Studium begonnen - obwohl Sie schon Ihre Approbation als Arzt hatten. Warum?

Ich war mit meinem Studium fertig, habe keinen Job gekriegt und dachte, dann kann ich ein bisschen Philosophie studieren - weil mich das schon immer interessierte. Daraus wurden dann zwei Studiengänge: Philosophie und Ethnologie.

Was glaubt der Geisteswissenschaftler in Ihnen: Sind psychisch Erkrankte ein Zeichen für Defizite einer Gesellschaft?

Das glaube ich nicht. Menschen sind empfindliche Wesen und können immer krank werden. In den 60ern hatte man noch die Hoffnung, dass die Klassenkämpfe irgendwann mal in eine herrschaftsfreie und glückliche Gesellschaft führen. Und somit alle psychischen Erkrankungen verschwinden.

Aber man hat doch schon den Eindruck, dass psychische Erkrankungen zunehmen - gerade durch den steigenden Leistungsdruck in der Arbeitswelt.

Ja, das denkt man immer. Das ist so eine Prophezeiung des Untergangs des Abendlandes und die pessimistische Vorstellung, dass die moderne Gesellschaft per se schlecht ist. Ich glaube das aber nicht.

Warum gilt dann Depression als Volkskrankheit Nummer eins?

Es gibt eine große Diskussion darüber, ob Depressionen wirklich zunehmen oder sich die Leute eher trauen, darüber zu sprechen. Vor zehn Jahren wollte man gar keine psychische Erkrankungen haben und hat dann eher eine Magenverstimmung vorgeschoben. Heute kann man sich das eher zugestehen, weil jeder angesichts unserer gesellschaftlichen Verhältnisse melancholisch werden oder verzweifeln kann. Dass Leute sich eher trauen, über Depression zu sprechen, ist sicher auch ein Erfolg der Antistigmakampagnen, mit denen in den letzten Jahren gegen die Tabuisierung von Depression vorgegangen wurde.

Depression wird ja oft als Krankheit der westlichen Wohlstandsgesellschaft bezeichnet. Wie sehen Sie das?

Die Symptome können in den unterschiedlichen Kulturen oft ähnlich sein, werden aber unterschiedlich beschrieben. In China klagt man zum Beispiel nicht über Depression, sondern über Erschöpfung oder Nervenschwäche. Vor anderthalb Jahren war ich in Mali. Dort sagte ein Kollege an der Uniklinik, früher habe man gedacht, Afrikaner hätten keine Depressionen und seien immer gut gelaunt. Das ist natürlich Quatsch. In Mali sind viele Menschen einfach von magischer Beeinflussung überzeugt. Bei einer Depression in Deutschland würde ich die Schuld eher auf mich nehmen. Ein Patient aus Afrika kann dieselben unglücklichen Gefühle auf eine Magie von außen schieben.

also Alltagsreligiosität als Puffer?

Wenn bei uns ein Psychosepatient sagt, er werde vom Geheimdienst verfolgt, dann findet der kaum einen Gesprächspartner, und das führt ihn sehr stark in die Vereinsamung. Wenn dagegen jemand zum Beispiel aus dem arabischen Kulturkreis sagt, dass er von einem Dschinn, also einem Geist, bedroht wird, dann glauben auch andere daran, er steht also nicht allein mit seinem Problem.

Dschinns kommen ja auch im Koran vor. Heißt das, dass psychische Krankheiten in muslimischen Kulturen akzeptierter sind?

Die Patienten und ihre Familien können eher gemeinsam handeln. Die Angehörigen sagen dann: Ja klar, du wirst von einem Geist heimgesucht, wir müssen zu einem traditionellen Heiler gehen. Wenn es besser wird - und bei vielen Psychosen tritt ja auch eine Verbesserung ein - dann haben diese Menschen eine Erklärung dafür. Die Familie fühlt sich nicht so hilflos, und der Betroffene fällt nicht so schnell aus der Gemeinschaft raus.

Sie leiten an der Charité auch das Institut für Transkulturelle Psychiatrie. Ist das eine neue Richtung innerhalb der Psychiatrie?

Früher hat man in der Psychiatrie unter "transkulturell" Reisen in andere Länder verstanden. Schon Freud hat "von den armen nackten Kannibalen in Australien" geschrieben und wie überrascht er über die höheren Seelenregungen dieser Menschen sei. Auch in den 50er Jahren dachte man noch, man fährt mal nach Afrika und erfährt dort etwas über die frühe Kindheitsstufe der Menschheit, also ultrarassistisch. Zum Glück hat sich seitdem einiges an der Auffassung über andere Kulturen verändert, es geht jetzt endlich weg vom Exotischen. In unserem Institut liegt der Fokus auf den hiesigen Migranten. Diese Entwicklung gibt es allerdings erst seit 10, 15 Jahren.

Wie hoch ist der Patientenanteil mit Migrationshintergrund auf Ihren Stationen?

Etwa die Hälfte der Patienten hat einen Migrationshintergrund, das spiegelt die Situation in Wedding, einem Bezirk mit etwa 50 Prozent Einwanderern, wider. Das sind deutlich mehr als noch vor ein paar Jahren und hat eben auch damit zu tun, dass im zuständigen Bereich eine türkische Oberärztin in der Ambulanz und ein multikulturelles Team arbeiten.

Haben denn Einwanderer andere psychische Probleme als eingesessene Deutsche?

Bestimmte Formen der Schizophrenie kommen bei Migranten öfter vor. Die können zum Beispiel durch schlimme Erfahrungen im Heimatland, Folter beispielsweise, verursacht werden. Trotzdem schaue ich nicht in erster Linie auf den Migrationshintergrund, das kann ein Faktor von vielen bei der Krankheit sein. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.