Aufarbeitung Schweinegrippe: Mühsame Influenza-Archäologie

Eine politische Aufarbeitung der Schweinegrippe findet kaum statt. Bund und Länder streiten über Geld. Und es erheben sich Vorwürfe, die Pharma-Industrie hätte die Panik geschürt.

Schweinegrippen-Impfstoff. Bild: ap

Irgendwo in Deutschland lagern rund 16 Millionen Dosen Schweinegrippe-Impfstoff. Wo, bleibt geheim - schließlich geht es um Millionenwerte. Allein diese zentral verwahrte Menge hat rund 133 Millionen Euro gekostet. Neue Ankäufer finden sich nicht. Insgesamt könnten über 230 Millionen Euro für unverbrauchten Impfstoff an den Bundesländern hängen bleiben, schätzt man in Niedersachsen, das der Gesundheitsministerkonferenz vorsitzt.

Vor wenigen Tagen haben die Länder noch einmal Hilfe verlangt. Die Bundesregierung habe auf große Impfstoffbestellungen gedrängt, nun soll der Bund auch zahlen. Fette Schlagzeilen bekommt das nicht mehr. Eine große politische Aufarbeitung des H1N1-Hypes ist nicht in Sicht.

International passiert mehr. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf sieht sich harschen Vorwürfen ausgesetzt, sie habe die Gefahr des Virus übertrieben und Pharma-Interessen in die Hände gespielt. Generalsekretärin Margaret Chan betont: "Zu keiner Zeit, nicht für eine Sekunde, sind kommerzielle Interessen in meine Entscheidungen eingeflossen." Trotzdem hat sie schon vor Monaten ein Komitee eingesetzt, das das Vorgehen der WHO evaluiert.

23. April 2009: Mexiko meldet erste H1N1-Fälle an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gesundheitsbehörden in Kanada identifizieren das Virus als "Schweinegrippe". Erste Fälle in den USA.

25. April 2009: Die WHO warnt vor dem "Pandemie Potenzial" des Virus. Am Frankfurter Flughafen werden Reisende aus Mexiko auf Symptome untersucht.

30. April 2009: Das Bundesgesundheitsministerium schaltet eine Bürger-Hotline. Jeder H1N1-Verdachtsfall ist eine Zeitungsmeldung wert. Erkrankte werden möglichst isoliert.

11. Juni 2009: Die WHO ruft den Pandemie-Fall aus.

14. Juli 2009: Die Bundesländer melden, sie hätten sich geeinigt, Impfstoff für 30 Prozent der Bevölkerung zu kaufen. Über Optionen für weitere Mengen wollen sie gemeinsam mit dem Bund und der Industrie verhandeln.

Juli/August 2009: Staat und Krankenkassen streiten, wer die Kosten für die H1N1-Impfung tragen muss. Mitte August kommt die Einigung: Die Kassen zahlen, bis 50 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Diese Quote wird nie erreicht werden. Inhaltlich wird die Impfung wenig diskutiert. Es gibt nur wenige importierte Infektionen.

29. September 2009: GlaxoSmithKlines Impfstoff Pandemrix erhält EU-Zulassung.

12. Oktober 2009: Offizielle Impfempfehlung der Ständigen Impfkommmission. Kurz darauf erreicht Kritik an Wirkverstärkern und der schnellen Impfstoffzulassung auch den medialen Mainstream. Es wird bekannt, dass die Bundeswehr anderen Impfstoff bestellt hat als die Länder.

25. Oktober 2009: Start der Impfkampagne. Inzwischen gibt es auch eine Ansteckungswelle, die Mitte November ihren Höhepunkt erreichen wird. Teils schließen Schulen und Kitas.

2. Dezember 2009: Die Dosierungsempfehlung für Pandemrix wird geändert. Die bestellten 50 Millionen Dosen reichen für etwa doppelt so viele Menschen wie geplant.

7. Januar 2010: Die Länder verhandeln mit GlaxoSmithKline. Die Bestellung wird auf 34 Millionen Dosen reduziert.

Ende Juni 2010: Laut WHO wurden weltweit 18.239 H1N1-Tote gemeldet. Das RKI beziffert die Zahl der Todesfälle auf 257. Gezählt werden verstorbene Infizierte, unabhängig davon, ob Schweinegrippe Todesursache war. (kaj)

Kräftig aufgerührt hatte die Debatte der Europarat mitsamt einer Resolution für mehr Transparenz und einem Report des britischen Abgeordneten Paul Flynn. Der zeigt sich im Gespräch mit der taz überzeugt, dass dem Schweinegrippen-Hype von langer Hand der Boden bereitet wurde. "Am Ende wurde eine Pandemie ausgerufen, weil man erwartete, dass eine anstand." Die Hysterie geschürt hat seines Erachtens die European Scientific Working group on Influenza (ESWI). "Die sind komplett von der Pharmaindustrie finanziert." Auch das British Medical Journal berichtet, die ESWI habe schon 1999 an einem WHO-Plan mitgearbeitet, der vor dem Risiko einer Grippe-Pandemie mit riesigen Opferzahlen warnt. Die ESWI macht auf ihren Internetseiten kein Geheimnis daraus, Geld von zehn großen Pharmafirmen zu erhalten. Ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit sei aber "absolut und unbestreitbar", heißt es dort - und gleich auf der Startseite: "Schweinegrippe-Experten und Big Pharma: Keine Verschwörung".

Im Bundesgesundheitsministerium (BMG) kam Flynns Bericht offenbar schlecht an: Als im Europarat die Resolution zur Abstimmung anstand, erreichte die deutsche Delegation eine Ablehnungsempfehlung. Verschickt wurde sie von der Bundestagsverwaltung. Dass es eigentlich das BMG war, das rügte, Flynn stütze sich auf selektive Angaben und erhebe Vorwürfe, die längst geklärt seien, mussten die Delegierten erst recherchieren: Das Schreiben hatte keinen Briefkopf. Skandalös? Der frühere SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wodarg spricht von einem Vertuschungsversuch, der zeige, dass auch beim BMG mehr Transparenz geschaffen werden müsse.

Beharrlich betreiben Mitglieder der grünen Bundestagsfraktion Pandemie-Archäologie mit parlamentarischen Anfragen. Ein Beispiel: Inwieweit ist die unabhängige Arbeit der Bundesregierung beeinträchtigt, weil sie vereinbart hat, Pressemitteilungen über die Impfstoff-Vertragsverhandlungen mit GlaxoSmithKline abzustimmen? "Nicht beeinträchtigt", heißt es in der Antwort des BMG.

Auch ein Fachgespräch mit Titel "Pandemien als Geschäftsmodell? - Lehren aus der Schweinegrippe" haben die Grünen angestrengt. Als erster Redner überraschte am Montag der Virologe Alexander Kekulé, der schon im April 2009 gewusst haben will, dass die Schweinegrippe "harmlos" war. Kekulé nennt die Verträge für die Impfstoffbeschaffung "beschissen". Dass ein Impfstoff gegen Schweinegrippe gekauft werden sollte, habe aber auch die Schutzkommission beim Innenministerium geraten - mit Blick auf das höhere Sterblichkeitsrisiko für Kinder. Kekulé gehört der Kommission an und gibt die Einschätzung so wieder: "Aus psychologischen Gründen können wir der deutschen Bevölkerung nicht zumuten, dass hier einfach gestorben wird und es keinen Impfstoff gibt."

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