Unter Erfahrungsdruck

Von den Landstraßen und den Kerkern lernen: Schriftsteller zu sein in der DDR – das war eine gesellschaftlich aufschlussreiche Situation. Thomas Brasch stellte sich ihr mit allen Konsequenzen

Später macht Brasch dem Vater Schande, er landet im Gefängnis und darf sich in der Produktion bewährenIn Deutschland liegt es nahe, das Land für den frühen Tod seiner Dichter verantwortlich zu machen

VON JOCHEN SCHMIDT

Im November 2001 ist Thomas Brasch, nur 56-jährig, gestorben. „Das blanke Wesen“, ein Arbeitsbuch mit Materialien, unveröffentlichten Fotos, Erinnerungen von Wegbegleitern und einem bemerkenswerten Tagebuchauszug, zeigt, wie sehr er fehlt (Verlag Theater der Zeit, 180 Seiten, 12,80 Euro). Begabung ist die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen zu geraten, so sagte Heiner Müller über Brasch. Was sind heute gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen? Sozialfall? Bundeskanzlerin? Deutschlehrer an einer Schule im Wedding? Bundeswehrsoldat im Kosovo? In der DDR war der Schriftstellerberuf so eine Situation und Thomas Brasch hat sich ihr mit allen Konsequenzen gestellt.

Vorher kam allerdings eine andere, die zweifellos prägendste gesellschaftlich aufschlussreiche Situation, in die ihn keine Begabung führen musste: die Familie. 1945 in England als Sohn kommunistischer Juden im Exil geboren, wächst er nach der Rückkehr der Familie in der sowjetischen Besatzungszone auf, Stalins spießigem Vorposten. Der Vater, ein hoher SED-Funktionär, steckt den Minderjährigen in eine Kadettenanstalt für NVA-Offiziere, eine Einrichtung, die es damals noch gab. Ihr schlimmes Verhältnis, das sich nie entspannte, und die lebenslange Wut des Sohns wurden oft beschrieben; wie es dazu kam, verdeutlicht das Faksimile eines trocken und förmlich wirkenden Briefs des Vaters an Brasch. Weil dieser angedeutet hat, schreiben zu wollen, wird von Hand ein kurzer Abriss von Gorkis Lebenslauf beigefügt: „Hier auch noch einige Daten aus der Entwicklung des bisher größten sozialistischen Schriftstellers, Maxim Gorki.“ Wer solche Väter hat, braucht keine Feinde mehr.

Später macht Brasch seinem Vater reichlich Schande, er wird von der Uni relegiert, landet im Gefängnis und darf sich in der Produktion bewähren. Müller hat den Vater-Sohn-Konflikt seines jüngeren Konkurrenten in „Der Findling“ schamlos ausgebeutet, ein großartiger Text über ein Grundproblem der DDR, den Generationenkonflikt zwischen der durch ihren Antifaschismus legitimierten Führungsschicht und den Nachgeborenen ohne Fronterfahrung im Klassenkampf. Wer sich gegen die Nazis gestellt hat (ob tatsächlich oder vorgeblich), um diesen Staat zu erkämpfen, verlangte Dankbarkeit und Gehorsam. Von ihrer Wagenburgmentalität konnte sich die Führung nie emanzipieren, im Grunde stand der wahre Feind für sie immer diesseits der Grenzen. Alles wurde zum Stellvertreterkrieg, es ging nur vorderhand um Beatmusik, Jeans oder die Stones, in Wirklichkeit wurde mit jedem Abweichen die Machtfrage gestellt.

In Braschs Fall verlief die Front mitten durch die Familie, zudem fühlten sich die Eltern als kommunistische Juden der DDR zusätzlich verpflichtet, ein Kapitel der Geschichte dieses Landes, das bisher kaum untersucht wurde. Das Bild von der Beisetzung des Vaters am 29. 8. 1989: Was mag der aus seinem Land vertriebene Autor gefühlt haben, in einer Reihe mit Armeegeneral und Parteispitze in der Endzeit des Regimes?

Weil er seine Texte nicht publizieren konnte (er lebte von Gelegenheitsarbeiten, z. B. der Kinderplatte „Wie Herr Bell das Telefon erfand“, hundertmal gehört, lange bevor einem die Bedeutung ihres Autors bewusst sein konnte), war er 1977 widerstrebend nach Westberlin gegangen. Schon damals erlebte er, was für die meisten erst 1989 anstand: die freundschaftliche Umarmung durch den Westen mit der impliziten Erwartung, sein Gepäck an Erfahrung zurückzulassen. Aber die DDR war damals zumindest noch eine erfolgreiche Werbekampagne für ihre Künstler, Brasch wurde auch ohne Anpassung schnell zum Star, er drehte sogar Spielfilme und schaffte es mit zweien davon ins Wettbewerbsprogramm von Cannes, was später nicht mehr vielen deutschen Regisseuren gelang. Nach der Wende verweigert er sich dem Literaturbetrieb, schreibt nicht den viel geforderten autobiografischen Familienroman, sondern arbeitet an einem 10.000-Seiten-Manuskript über einen Mädchenmörder, von dem der Suhrkamp Verlag irgendwann, offenbar entnervt, eine kümmerliche Auswahl von kaum 100 Seiten druckt.

War mit der DDR auch er selbst zum Tode verurteilt? Ein viriler, dunkeläugiger Herzensbrecher mit scheinbar unerschöpflichem Selbstbewusstsein richtet sich in wenigen Jahren mit Alkohol, Drogen und selbstzerstörerischer Arbeitswut zugrunde. In Deutschland liegt es ja immer nahe, das Land für den frühen Tod seiner Dichter mitverantwortlich zu machen. Ist das romantisches Denken? Stirbt man an Krankheiten oder auch an Gesellschaften? Neben zahlreichen erstmalig veröffentlichten Filmexposés (warum wurden diese Filme nie gedreht?), aufschlussreichen Erinnerungen von Wegbegleitern (unter ihnen natürlich auch viele der Frauen in seinem Leben) enthält das Arbeitsbuch auch eine kleine Sensation, gut 30 Seiten Tagebuch aus Braschs Zeit im Transformatorenwerk Oberspree in Berlin-Oberschöneweide. Bewegendes Material aus der proletarischen Kelleretage der DDR, an die heute niemand mehr denkt. Nach dem Gefängnis die Bewährung in der Knochenmühle Schichtarbeit. Die Legende vom Faulenzerparadies DDR, zumindest für die späten 60er darf sie revidiert werden. Im Gegenteil, denn wo es in der BRD freie Gewerkschaften und Streikrecht gab, wurde im Osten die Arbeiterklasse moralisch erpresst und von ihrer eigenen Führung kolonisiert.

Für den angehenden Autor war der Erfahrungsdruck nie wieder so hoch. Er erlebt aus erster Hand die Misere der Arbeiter im Sozialismus (ohne allerdings den nahe liegenden Schluss zu ziehen, dass der Staat von links kritisiert werden müsste; man glaubt weiter, man schinde sich letztlich für die gemeinsame Sache). „Maxim Gorki schrieb ein sehr berühmt gewordenes Buch, das den Titel ‚Meine Universitäten‘ trägt. Seine Universitäten waren die Landstraßen, Obdachlosenheime und Kerker des zaristischen Russlands“, hatte der Vater dem Zwölfjährigen geschrieben. Im Grunde ist Brasch, trotz seiner lyrischen, an Heine geschulten Veranlagung, dieser ihm vom Vater nahe gelegten Verpflichtung dem Milieu der Unterdrückten gegenüber immer treu geblieben.

Das Land war, anders als in der Schule gelehrt, keine saubere Geburt gewesen. Auch die Wurzeln der DDR reichten in die Nazizeit. Das zeigt sich an den Biografien der Arbeiter im Werk, die Brasch dokumentiert, so wie er alles notiert, die Liebesgeschichten, das obsessive Fremdgehen, das Saufen nach der Arbeit. Denn während die intellektuelle Jugend sich von den Alten abzuheben sucht, erlernen die jungen Proletarier nicht nur das Handwerk, sondern auch die Gewohnheiten der Älteren, das heißt vor allem zu trinken. Er dokumentiert aber auch unnachahmliche Arbeiterlakonie: „Du hast’s gut, du legst dich in die Sonne, ich muss an die Maschine.“ – „Schlag sie doch tot.“ Er begegnet den verschrobensten Charakteren: „Er habe ein neues Farbfernsehsystem entwickelt: rotes Papier vor die Bildröhre kleben und aus einem Winkel von 60° mit einer Lampe ausstrahlen.“ Im angeblichen Arbeiter-und-Bauern-Staat gab es eine tiefe Kluft zwischen unten und oben. Brasch schreibt mit, wie die Arbeiter zu den rituellen Versammlungen stehen: „Das scharfe Bewusstsein für die Trennung solcher offiziellen Veranstaltungen von der Wirklichkeit (,muss ja sein‘). Einige behielten den Arm bei kurz aufeinander folgenden Abstimmungen in den Pausen oben.“

Für den Künstler, der sich als nützlichen Teil der Gesellschaft begreift, zeichnet sich ein Grundproblem ab: wozu für Menschen Kunst produzieren, die gar nicht die Kraft haben können, sie zu rezipieren? Arbeit macht dumm und krank, wenn man nur noch schlafen und essen kann. Rührend der Entwurf einer neuen Arbeitsordnung, die vorsieht, dass der Direktor am Morgen jeden mit Handschlag begrüßt. Je angenehmer die Freizeit, umso stärker das Warten darauf während der Arbeit, was die Leistung beeinträchtigt: „Die Bemühungen müssen sich auf die Arbeitszeit richten, sie muss potenziell der Freizeit angeglichen werden.“

Dieser Text ist ein Beleg dafür, wie wertvoll Tagebücher sind. Einem Autor, der sich später nie mehr in die Karten gucken ließ, der kein Stammgast im Feuilleton war, sondern sich mit spärlich publizierter Lyrik beschied, kann dabei über die Schulter gesehen werden, wie er sich selbst erfindet. Ganz Brecht-Schüler, kreidet er sich „spießige Melancholie“ an und ruft sich immer wieder zur Räson: „Der letzte Satz des Vortages beweist das erschreckende Phänomen der Literarisierung.“

Heute studieren Autoren und Verlage Zielgruppen, um sie mit passenden Produkten zu beliefern. Für Brasch sind die Arbeiter, deren Alltag er teilt, nicht nur potenzielle Käufer, sondern auch Adressaten seiner Gedanken und Partner im großen gesellschaftlichen Gespräch, an dem er über seine Texte teilhaben will. Wenn aber der Austausch zwischen Intellektuellen und Arbeitern schon wegen des ermüdenden Lebensrhythmus unmöglich ist, dann muss die Utopie scheitern. Was bedeutet Kunst im Leben der Arbeiter, wenn ihnen nur wenige Stunden am Tag für Erholung bleiben? „Schlager als kulturelles Erlebnis Nr. 1. Abneigung gegen Titel auf Englisch.“ Und die Arbeit zerstört nicht nur den Körper, sie frisst auch die Seele auf, bis es kein Jenseits der Arbeit mehr gibt. Als einer der Kollegen Urlaub hat, fährt er nicht etwa weg, sondern trifft sich am Feierabend vor dem Werktor mit den anderen, um sich in der Kneipe das Neueste aus dem Betrieb erzählen zu lassen. Ein junger Dichter, noch ohne die Maske der Literatur, ohne die Pose des Frauenverschlingers, der zwar schon an seinem zukünftigen Ruhm bastelt, aber noch ganz irdische Probleme hat: „Vieles von der augenblicklichen Unbestimmtheit, Nervosität und Unproduktivität schreibe ich den Wohnverhältnissen zu.“

Dass er so jung gestorben ist, macht es noch anrührender, ihn als Jugendlichen mit ganz einfachen Vorstellungen vom Glück zu erleben: „Oft denke ich an die Wohnung, die nun fast in Aussicht ist. Leichte, fast weiße Tücher an den Fenstern. Kein Buch im Zimmer.“