Lohnpolitik im Öffentlichen Dienst: Die Null-Prozent-Strategie

Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di fordert fünf Prozent mehr Lohn. Zu viel in der Krise? Die IG Metall jedenfalls geht andere Wege. Sie will lieber die Arbeitsplätze sichern.

Engagement scheint ihm nicht zu fehlen. Mit 20 Monaten ist Leon schon im Einsatz für die Gewerkschaft. Bild: dpa

BERLIN taz | Friedo Weh denkt an die 600 Azubis seines Krankenhauses oder an die Krankenschwester, die mit 60 Jahren keine Patienten mehr ins Bett wuchten kann. "Die 5 Prozent sind ein Paket. Es enthält zum Beispiel Übernahmegarantien für Azubis oder Regelungen zur Altersteilzeit", sagt der Gesamtbetriebsratsvorsitzende des Klinikums Region Hannover. Und er fragt: "Warum sollten wir wegen der Krise auf Lohnerhöhungen verzichten?"

Diese Frage wird im Moment von der IG Metall, der mit 2,4 Millionen Mitgliedern stärksten Einzelgewerkschaft Deutschlands, und der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sehr unterschiedlich beantwortet: Während Ver.di für die rund 2 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den Kommunen und die 160.000 Tarifbeschäftigten des Bundes besagte fünf Prozent mehr Geld will, wird der Metaller-Vorstand heute ein Novum in der Geschichte der IG Metall beschließen: den Verzicht auf eine konkrete Lohnforderung. Dafür steht für ihren Vorsitzenden Berthold Huber "Beschäftigung ganz oben".

Josef Esser, der an der Universität Frankfurt am Main über Gewerkschaften forscht, sagt: "Ver.di fährt mit dem Ruf nach mehr Geld und frühen Warnstreiks im Vergleich die klassische Strategie." Die IG Metall hingegen vermeide mit dem angekündigten Verzicht auf Streiks die Frontenbildung. "Sie strebt ein ganz neues Agreement an." Ist die 0-Prozent-Forderung in der Wirtschaftskrise klug? Oder eine Kapitulation der Arbeitnehmervertreter?

In diesem Jahr stehen neben den Verhandlungen im öffentlichen Dienst (Gesamtforderung: 5 Prozent) und für die Metallindustrie auch neue Tarifverträge bei der Chemie- und Stahlindustrie, den Banken, der Papierverarbeitung oder Unternehmen wie Deutsche Bahn an. Insgesamt laufen bis Ende Dezember die Einkommenstarifverträge für etwa 9,4 Millionen Beschäftigte aus. Dabei verfolgen die Gewerkschaft IG BCE (Chemische Industrie mit 559.100 Beschäftigte) sowie das Bankgewerbe (258.500 Angestellte) eine ähnliche Tarifpolitik wie die IG Metall: Die Priorität gilt der Sicherung der Arbeitsplätze, beim Lohn wird unkonkret auf eine "angemessene Erhöhung" gesetzt. Die Branchen Landwirtschaft und Nahrung-Genuss-Gaststätten fordern dagegen Tariferhöhungen zwischen 4 und 5,3 Prozent. (Quelle: Hans-Böckler-Stiftung)

Gerade in der Krise müssten Menschen über Kaufkraft verfügen, argumentiert Ver.di. Der Vorsitzende Frank Bsirske sagte am Montag auf einer Kundgebung in Hannover mit Blick auf Reformen der schwarz-gelben Bundesregierung: "Lohnerhöhungen kurbeln die Wirtschaft besser an als Steuergeschenke für Hoteliers und reiche Erben."

Im Detail betrachtet besteht die Ver.di-Forderung keinesfalls nur aus Gehaltsaufschlägen. So will die Gewerkschaft beispielsweise Ungleichbehandlungen in Krankenhäusern abschaffen, wo Teilzeitkräfte derzeit keine Zuschläge für Überstunden bekommen. Ein Altersteilzeittarifvertrag soll verlängert und ausgebaut werden, um älteren MitarbeiterInnen den sozialverträglichen Ausstieg zu ermöglichen. Außerdem kämpft Ver.di dafür, dass Betriebe Azubis für zwei Jahre übernehmen - also um Arbeitsplatzsicherung, ähnlich wie die IG Metall.

In der Summe ergeben solche Maßnahmen - mit Lohnaufschlägen - ein Volumen von 5 Prozent. "Das Paket enthält eine soziale Komponente, NiedrigverdienerInnen werden stärker berücksichtigt", sagt Ver.di-Sprecher Christoph Schmitz. "Die verschiedenen Bausteine haben wir bewusst nicht fest beziffert, um keine Hürden aufzubauen." Verglichen mit den Tarifforderungen 2008 und 2009 von je 8 Prozent bleibt Ver.di moderat. Sprecher Schmitz sagt: "Natürlich wissen wir um die schwierige Lage der öffentlichen Hand. Doch das Paket ist vertretbar und wird ihr gerecht."

Die Lage der öffentlichen Arbeitgeber ist dramatisch: Der Bund muss allein 2010 85,8 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen, der Städtetag sagt für die Kommunen ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro voraus.

Während Ver.di auch am Montag wieder Busunternehmen, Kindergärten und Krankenhäuser vor allem im Norden Deutschlands bestreikte, sind Warnstreiks bei der IG Metall in diesem Jahr kein Thema. Und sie verzichtet auf eine Lohnforderung. Noch in der Tarifrunde 2008 forderte sie stolze 8 Prozent mehr Geld und erstritt nach Verhandlungen mit den Arbeitgebern immerhin 4,2 Prozent. "Trotz Krise eines der besten Ergebnisse der jüngeren Geschichte", wie es in Gewerkschaftskreisen hieß, weil die Inflation im Krisenjahr gegen null Prozent tendierte.

Dieses Jahr will die IG Metall vor allem Jobs erhalten. "Jetzt geht es darum, dass die Krise nicht zur Katastrophe für die Arbeitsplätze wird", sagte der Chef der IG Metall, Berthold Huber, der Welt. Und: "Wenn wir unserer bisherigen Linie treu bleiben wollen, dass die Beschäftigung ganz oben steht, dann sollten wir in die Gespräche mit den Arbeitgebern ohne Konditionen hineingehen."

Gespräche mit den Arbeitgebern gibt es längst. Seit Dezember treffen sich die Tarifpartner zu eher ungewöhnlichen Sondierungsgesprächen. Die mitgliederstärksten IG-Metall-Bezirke Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen plädierten vergangene Woche sogar dafür, die Verhandlungen entgegen der Gewohnheiten vorzuziehen und schnell abzuschließen, obwohl der Lohntarifvertrag eigentlich erst Ende April ausläuft.

"Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln", sagt etwa der Sprecher des IG-Metall-Bezirks Baden-Württemberg, Kai Bliesener. "Wir haben bei der Bewertung der Krise an mehreren Stellen gemeinsame Auffassungen." Die Arbeitnehmer und Arbeitgeber bräuchten Planungssicherheit, sagt Bliesener. Die Wichtigkeit von Planungssicherheit betont auch Martin Leutz, Sprecher des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Und: "In der Bewertung der Branche gibt es keinen Unterschied."

Die Zahlen bei der Sachbewertung sind deutlich für Deutschlands Schlüsselindustrie. Die Produktion in der Metall-und Elektrobranche, die die exportstarke Autoindustrie und den Maschinenbau umfasst, ist im Krisenjahr um rund ein Drittel eingebrochen. "Wenn wir auf den Stand 2008 vor der Krise kommen wollten, müssten Produktion und Auftragseingänge um jeweils 34 Prozent wachsen", sagt Gesamtmetall-Sprecher Leutz.

Die Auslastung der Betriebe betrage gerade mal 70 Prozent, in guten Zeiten seien es 90 Prozent. Die Branche mit ihren derzeit rund 3,4 Millionen Beschäftigten werde 2009 erstmals in der Nachkriegsgeschichte im Schnitt Verluste schreiben. Die Beschäftigung in der Branche ist dabei wegen der Kurzarbeiterregelung der Bundesregierung nur um rund fünf Prozent gesunken - von 3,6 auf 3,43 Millionen.

Die Kurzarbeit bei den Metallern lag 2009 in der Spitze bei einer Million Beschäftigten, zuletzt waren es noch gut 700.000. Allein in Baden-Württemberg waren es 250.000 von 740.000 Beschäftigten. "Der Südwesten hat mit die größte Kurzarbeiterrate in ganz Deutschland", sagt der Baden-Württemberger IG-Metall-Sprecher Bliesener.

Auch deshalb kam aus Baden-Württemberg schon früh der Vorschlag, den seit 15 Jahren existierenden Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zu verändern und wegen der erwarteten andauernden Wirtschaftskrise "bis Mitte 2012" neu auszuhandeln. Kern des Vorschlags ist dabei die tarifliche Regelung der Kurzarbeit, da die momentane gesetzliche Regelung der Bundesregierung mit der Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge durch die Bundesagentur für Arbeit Ende 2010 auslaufen soll.

Über den Weg der tariflichen Kurzarbeit könnte die Arbeitszeit auf bis zu 26 Stunden abgesenkt werden. Das würde die Betriebe entlasten. Der bestehende Tarifvertrag sieht bisher die Absenkung auf 30 Stunden vor. Da diese Regelung allerdings Einkommensverluste für die Beschäftigten bedeuten würde, fordert die IG Metall einen teilweisen Lohnausgleich für die weniger geleisteten Arbeitsstunden.

Das würde wiederum die Arbeitgeber belasten. Deswegen schlägt die IG Metall vor, dass der Lohnausgleich von Steuern und Sozialabgaben befreit wird. Die Krux: Das müsste wiederum die Bundesregierung entscheiden, und die Bundesagentur für Arbeit dann die Kosten übernehmen. "Wir müssen dann mit dem Modell zur Bundesregierung gehen. Es sollte aber auch unabhängig von der Entscheidung der Bundesregierung tragen", beschreibt Gesamtmetall-Sprecher Martin Leutz das Problem.

Und dann wären da noch die Löhne. Die IG Metall wird zwar keine Prozentzahl nennen wie bei vorherigen Runden. Aber über Geld wird sie trotzdem sprechen. Denkbar wäre zum Beispiel eine Einmalzahlung, die den bisherigen Lohntarifvertrag fortschreiben könnte. Die Realeinkommen und auch die Kaufkraft müssten gesichert werden, heißt es bei der IG Metall. "Es gibt keinen Verteilungsspielraum", sagt Gesamtmetall-Sprecher Leutz. Klar ist: Ob es tatsächlich eine Nullrunde wird, ist nicht gesagt.

Gewerkschaftsexperte Josef Esser hält die Strategie der IG Metall für die klügere. "Es geht bei Tarifauseinandersetzungen immer um die Unterstützung der Öffentlichkeit. Das Vorgehen der IG Metall wirkt in einer ernsten Krise moderater, vernünftiger und eher am Gemeinwohl orientiert als das von Ver.di." Esser sagt aber auch: Welche Strategie im Ergebnis für die ArbeitnehmerInnen erfolgreicher ist, sei noch nicht abzusehen.

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