Das Band der Solidarnosc

Wolfgang Templin erlebte als DDR-Bürgerrechtler, wie Semler der osteuropäischen Opposition half

Christian Semler war schon eine Legende, als wir im Frühjahr 1982 das erste Mal zusammentrafen. Die Ausrufung des Kriegszustandes in Polen am 13. 12. 81 löste auch in der Ostberliner Alternativszene einen Schock und heftige Depressionen aus. Wieder einmal schien alles umsonst zu sein, die Panzer und die Macht triumphierten. Eine Minderheit von uns wollte sich damit nicht zufriedengeben und setzte auf das Überleben der Solidarnosc im Untergrund.

Wir konnten allesamt nicht mehr nach Polen und andere Ostblockstaaten reisen. Umso mehr waren wir auf Kontakte und Begegnungen mit Gleichgesinnten angewiesen, die abenteuerlich genug zustande kamen. Christian Semler, seine Frau Ruth Henning, Elisabeth Weber von den Grünen und andere Freundinnen und Freunde aus der Bundesrepublik schafften es mehrfach zu uns nach Ostberlin. Nahezu alle waren Exmaoisten, die einen realistischen Blick auf die diktatorischen Systeme nicht nur des Ostens teilten und sich uns Oppositionellen verbunden fühlten.

Christian Semler, der schon 1981 im Kölner Bund-Verlag einen Sammelband mit Analysen und Dokumenten zur Gewerkschaft Solidarnosc herausgab, wurde zu einem der wichtigsten Unterstützer der osteuropäischen Oppositionellen. Er wurde 1984 zum Mitbegründer des Europäischen Netzwerkes für den Ost-West-Dialog. Darin versammelten sich Aktivisten der tschechischen und slowakischen Charta 77, der ungarischen Opposition, der Untergrund-Solidarnosc und anderer mittelosteuropäischer Länder. Auch Jürgen Fuchs und Roland Jahn als aus dem Land gesetzte DDR-Oppositionelle wirkten mit.

„Den Helsinki-Prozess mit Leben erfüllen“ hieß für die Beteiligten, ihre Vorstellungen eines künftigen demokratischen, ungeteilten Europas zu entwickeln und den Weg dahin auszumessen. Es hieß, den Protest gegen die Unterdrückung und Inhaftierung von Oppositionellen zu organisieren und praktische Hilfe für die Betroffenen und ihre Familien zu leisten.

In der Kölner Wohnung von Christian und Ruth sammelte sich halb Osteuropa. Wenige Stunden nach unserer Überstellung in die Bundesrepublik aus der Haftanstalt Hohenschönhausen im Februar 1988 trafen wir erneut mit Christian und Ruth zusammen. „Macht nichts, eure Arbeit geht jetzt zusammen mit uns hier weiter, was braucht ihr“, waren mit die ersten Worte. Christian verband Hilfsbereitschaft und tiefe Menschlichkeit mit einem unglaublichen Gefühl für Situationskomik. Er konnte so über schwere Momente hinweghelfen.

Wenn ihn Heribert Prantl als „Radikaldemokrat im allerbesten Sinne“ beschreibt und Daniel Cohn-Bendit von einem „starken linken Gewissen“ schreibt, so sind das Eigenschaften, welche die Arbeit für die taz prägten und die Auseinandersetzung Christian Semlers mit den mittelosteuropäischen Entwicklungen nach 1989 charakterisieren. Polens Reformweg bleibt einer der zentralen Punkte seiner Aufmerksamkeit.

Der deutsch-polnischen Annäherung, Aussöhnung und Partnerschaft fühlte er sich besonders verpflichtet. Es war ein schönes Gefühl, neben Christian stehen zu können, als ihm im September 2010 die Dankesmedaille des Europäischen Zentrums Solidarnosc aus der Hand des polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski verliehen wurde. Wir konnten uns das letzte Mal in Warschau sehen.