Normalzeit: Avantgarde und Elite

Die junge Elite von heute will niemandem mehr zu ihrem Glück zwingen. Schon gar nicht die Gesellschaft als ganze.

Es wird dunkler, bald ist es wieder so weit. "Stellt Kerzen in die Fenster!", forderten der Regierende Bürgermeister und die Bild-Zeitung noch in den Sechzigerjahren ihre Berliner (das heißt die Westberliner) auf - zum Gedenken an die "Brüder und Schwestern in der Zone". Geblieben sind davon die blinkenden Lichterorgien in den Fenstern der Sozialwohnungen ganz Berlins. Damals beteiligte sich noch der US-Kommandant der Stadt an diesem Brauch: "Wir wollen mit erneuter Entschlossenheit die Kerze der Hoffnung für jene leuchten lassen, die noch in der Knechtschaft leben." Damit waren die Menschen unter der Knute der Kommunisten gemeint. Zur gleichen Zeit entfaltete sich jedoch in der Frontstadt im Zusammenhang der Studentenbewegung eine kommunistische Kritik, die die "Knechtschaft" als Ausbeutung hier begriff - unter der vor allem die Völker in der Dritten Welt litten und in denen die Kommunisten die antikolonialen Befreiungskämpfe anführten. Hier richtete sich die Kritik auch noch gegen die selbst erlittene Sexualunterdrückung in der herrschenden Kleinfamilie. Ihre "Praxis", vom Happening bis zur Demo, war aufklärerisch-intellektuell. Die Kaderentwicklung verlief vom Soziologiestudenten zum Berufsrevolutionär. In der Frontstadt standen dem wahre Heerscharen altgedienter Berufsreaktionäre entgegen - allen voran die Springerstiefelpresse, deren Programmgrundsatz Axel Springer im Jahr 1959 so erklärte: "Ich war mir seit Kriegsende darüber klar, dass der deutsche Leser eines auf keinen Fall wollte, nämlich nachdenken. Darauf habe ich meine Zeitungen ausgerichtet."

Rudi Dutschke, projektierte ungeachtet dessen nach dem Vorbild der chinesischen Volkskommunen ein autonomes Netz von Kommunen für ganz Berlin. Er selbst zog es dann jedoch vor, in ein "Institut" statt in eine Kommune zu ziehen. Die Einheit mit den Kommunarden und ihrem "Homo subversivus der dynamischen Soziologie" (Kunzelmann) blieb aber bestehen. Diese wachsende und sich radikalisierende selbst ernannte Avantgarde der Außerparlamentarischen Opposition (APO) wurde auch in Westdeutschland anerkannt, wie Ulrich Enzensberger in "Die Jahre der Kommune 1" schreibt. Er spricht dabei an einer Stelle von "Provokations-Elite". Einige wenige "Rädelsführer", die kommunistische Eltern hatten, wie Peter Rambauseck, wurden auch als "sozialistischer Adel" bezeichnet (ebenso adelten Gefängnisstrafen), während der Verfassungsschutz insgesamt von einer kriminellen Vereinigung ausging. Der linken Avantgarde ging es darum, die Massen aufzuklären - und sie letztlich zu ihrem Glück zu zwingen. Dazu verdingten sich die Berufsrevolutionäre zunächst als Hilfsarbeiter - später als VHS-Schulungsleiter oder Journalisten. Obwohl die Linken im Westen sich von den Kommunisten im Osten stets distanzierten und nicht einmal Geld von dort annahmen, war die Systemniederlage von 1989 auch ihre. Seitdem werden die damals von unten reformierten Universitäten erneut umgebaut - diesmal von oben zu Eliteuniversitäten. Überall geht es jetzt um Elitenbildung und -förderung, wobei man das vermeintlich Elitäre auch gern mit dem Generationenbegriff verknüpft, um es auf Adelsweise biologisch zu fundieren: Generation X, Generation Golf, Generation Praktikum und so weiter. Herbert Marcuses Diktum, dass die Studentenrevolte kein Generationskonflikt sei, sondern eine Opposition gegen die Gesellschaft als Ganzes, wurde bereits 1968 als "Gemeinplatz empfunden", wie Ulrich Enzensberger schreibt.

All die neuen Generationen - diese "Kommenden", die statt Soziologie nun Jura oder BWL studieren - eint, dass sie niemandem mehr zu ihrem Glück zwingen wollen, schon gar nicht die Gesellschaft. Höchstens - wenn es um Prolls, Sozialschmarotzer, anpassungsunwillige Ausländer geht, dass sie deren Unglück verstärken, damit die endlich den Arsch hochkriegen. Auch propagieren diese Eliten keine Kollektive, sondern wie der Adel wieder die Kleinfamilie (mit gesicherter Vaterschaft). Und statt von "Frust" ist nun von "Stress" die Rede. Sie nennen sich gern "Verantwortungs-Elite", kämpfen aber primär um das eigene Glück. "Das Ergebnis ist eine abstruse Kritik an der Aufklärung und dem wissenschaftlichen Denken", heißt es auf der "World Socialist Web Site" - und zwar über die jüngsten Polemiken des Elitephilosophen Peter Sloterdijk, dem gerade der Zeitgeist die Segel bläht.

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