Debatte Lokale Alkoholverbote: Kein Alkohol ist auch keine Lösung

Jeder weiß, dass Verbote den Alkoholkonsum nicht einschränken. Sie sollen die Leute dazu zwingen, in Gemeinschaft zu saufen. Aber warum?

Jugendliche sollen nicht mehr saufen. Arbeitslose auch nicht. Also: nicht öffentlich. Dergleichen hört man immer öfter. Die Münchner Verkehrsbetriebe haben soeben beschlossen, dass ab Februar nicht mehr in den U-Bahn-Wagen getrunken werden darf. Die Stadt Freiburg wiederum wollte das Saufen auf öffentlichen Plätzen untersagen, scheiterte aber vor Gericht. Nun zog das Bundesland Baden-Württemberg nach und beschloss, dass an Tankstellen und in Supermärkten ab 22 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf. Sofern die Gerichte dieses Gesetz nicht stoppen, tritt es Anfang März in Kraft. Allerdings: In Kneipen soll weiterhin Alkohol ausgeschenkt und zudem "außer Haus" verkauft werden dürfen. Auf Volksfesten soll ebenso eine Ausnahme von der Regel gelten. Sodass im Bereich vermeintlicher sozialer Kontrolle gelitert werden darf wie eh und je.

Tatsächlich beraubt sich ein stetig wachsender Teil des Volkes systematisch seiner "Volksgesundheit", und das abseits der Kneipen und Rummelplätze. Bereits um 19 Uhr begegnet man in Großstädten heute Jugendlichen - und längst nicht nur Jugendlichen -, die "vorglühen". Und nicht nur vermittels kleiner Bierflaschen; sie führen Wein- und Schnapsflaschen mit sich, die sie geleert haben werden, wenn sie bei der Party ankommen. Oder am nächsten Kiosk. Zweierlei ist offensichtlich: Es wird gespart, denn das Bier in den Clubs ist teuer. Und ein gewisser Pegel soll überschritten werden.

Früher war es nicht sehr viel anders, nur waren die Mengen geringer. Man trank heimlich auf dem Schulhof - oder man traf sich bei dem Kumpel, dessen Wohnung gerade "sturmfrei" war. Als man nicht mehr Jugendlicher, aber noch kein richtiger Erwachsener war, betrank man sich in WGs, bevor man "ausging". Das bisschen Geld, das man verdiente, erzwang dies - sofern der Vollrausch das erklärte Ziel war.

Heute trinkt man lieber draußen. Um immerhin draußen zu sein. Vielen geht es nicht mehr nur ums "Vorglühen", das Saufen im Freien ist ihr Ausgehen, sie haben nicht genug Geld für den Club. Der Vollrausch ist noch immer das erklärte Ziel. Insofern ist die Sorge der Politikerinnen und Politiker berechtigt. Doch unternehmen sie nichts gegen den "Alkoholmissbrauch", den sie im Übrigen so nennen, damit sie sich weiterhin ihren eigenen "Alkoholgebrauch" erlauben können. Sie bekämpfen also nicht die Ursache des Suffs, sondern das Symptom, und verbannen den Alkoholgenuss lediglich aus dem öffentlichen Raum.

Die Leute, die heute in der Bahn trinken, tränken in Kneipen, hätten sie das Geld. Das Trinken im öffentlichen Raum ist eine Sparmaßname - und es gefällt kaum einem, sein Bier vor aller Augen leeren zu müssen. Und "Zuviel" schadet noch immer dem Ruf. Doch das Trinken im Park gilt in vielen Kreisen nicht mehr als unschicklich. Dass manch ein Tankstellenvorplatz zum Biergarten geworden ist, ist leicht erklärt. Das Bier ist gekühlt und billig. Wenn dort aber ab 22 Uhr nicht mehr getrunken werden kann, dann geht man eben in der "Feuchten Ecke" sein teures Bier holen - so manche von der Schließung bedrohte Kneipe in Stuttgart oder Karlsruhe darf freudig großen Umsätzen entgegensehen.

Die soziale Kontrolle, die sich die Gesetzgebenden von der Verbannung des Alkohols von der nächtlichen Straße erhoffen, gibt es nicht. Manch eine Tochter kommt gerade durch den Vater zum Suff. Manch ein Wirt animiert seine minderjährigen Gäste zum Kampftrinken. Auf Volksfesten auf Mäßigung zu hoffen beweist Naivität. In der Gastwirtschaft geht es um Umsätze, nicht um Moral. Und den Jugendlichen geht es darum, die Kontrolle zu verlieren, just so wie ihren Eltern.

Das wiederum liegt an den Aussichten, und die sind mehr als trübe. Wenn ich nicht weiß, was nach Studium und Lehre tun, wenn es keine Jobs mehr fürs Leben gibt, wenn ich eh schon unvermittelbar bin, andererseits aber Kind und Karriere, Familie und Wohlstand, Treue und Promiskuität gelebt werden müssen, weil es die Gesellschaft wichtig findet, und das ohne Perspektive und mit Schulden zuhauf - dann ist der Suff eine billige Alternative zum Valium. Und Drogen braucht es, damit die Leute die "Anforderungen der modernen Zeit" bewältigen können, die keine natürlichen sind, sondern menschengemachte, jedoch für quasi natürliche gehalten werden. Wer nicht trinkt, nimmt Antidepressiva, wer keine Antidepressiva nimmt, ist sexsüchtig, wer nicht sexsüchtig ist, raucht Haschisch, wer nicht kifft, verliert sich im Internet, wer nicht internetsüchtig ist, betet sich die Knie wund, wer nicht ultrafromm ist, der säuft doch heimlich. Krank sind sie allesamt. So ist die Wirklichkeit des Kapitalismus. Die, die dafür sorgen, dass sie so bleibt, indem sie sie mit Staatsgewalt stärken, wissen dies genau. Selbst wenn sie selbst nicht trinken, müssen sie nur ihre Kollegen im Parlament ansehen.

Aber es ist die Erfahrung der Regierungen in allen totalitären Systemen - und der Kapitalismus, der uns inzwischen sogar unsere Gesundheit als Ware verkauft, nachdem er sie uns geraubt hat, ist doch wohl ein solches totalitäres System -, die Missstände dürfen nicht allzu wahrnehmbar sein. Das tägliche Scheitern darf nicht eingestanden werden, drum wird es in die halb öffentliche oder ganz private Gemeinschaft hineinverlegt. In der kleinen Kneipe ist das Dorf beisammen, man kontrolliert sich gegenseitig. So glaubt die Politik ein "Maßhalten" aufrechterhalten zu können.

Die Mutter, die in der Bar säuft, während sich eine Kneipe weiter der Sohnemann dicht macht, weiß, was der kleine Liebling tut, und ignoriert es. Fällt er vom Stuhl, fällt er weich, weil immer noch irgendjemand den Rettungsdienst rufen kann. Auf dem Volksfest sind die Umfaller fest eingeplant, die Sanitäter sind schon vor Ort. Das beruhigt. Das Kind, das neben der Tanke ins Gebüsch fällt und ein paar Stunden liegen bleibt, verstört. So soll es nicht sein. Man soll in Gruppen trinken, unter Aufsicht. Die Vereinzelung aber hebt der Kneipengang nicht auf. Den Suff wird ein Saufverbot an der Tanke nicht abschaffen. Kampftrinken ist Alltag. Aus Gründen. Wer das lediglich verstecken will, will die Ursachen nicht bekämpfen. JÖRG SUNDERMEIER

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1970 in Gütersloh geboren, lebt in Berlin. Er betreibt mit Kristine Listau den Verbrecher Verlag (den er 1995 mit Werner Labisch gegründet hat) und ist Autor für diverse Zeitungen und Magazine. Er schrieb mehrere Bücher. Zuletzt „Die Sonnenallee" und „11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt".

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